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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Madame Cacaelias Gesicht wurde zu einer wächsernen Maske, bleich und grimassenhaft.
    Die jüngste der Sirenen verließ die Runde der Schwestern. Sie ging zum Spinnennetz, zu Sunny. Beiläufig berührte sie Danny an der Schulter.
    Er konnte sich wieder bewegen.
    Ein Schuss zerriss die Stille.
    »Calypso!«, schrie Cal. Sie war panisch, verlor die Kontrolle. Blut rann ihr aus der Schulter.
    Danny musste an einen Satz aus einem Roman denken, den er irgendwann einmal gelesen hatte. Ich habe das Angesicht meines Vaters nicht vergessen, du singendes Flittchen. Das dachte er gerade, wenngleich es widersinnig war, denn sein Vater war ein Idiot gewesen.
    Cal indes starb nicht.
    Fauchte ihn nur an.
    »Danny!«, rief die wunderbare Frau, die gerade im Spinnennetz erwacht war.
    Er drehte sich um, lief zu ihr hin. Ergriff ihre Hand, küsste sie. »Ich bin hier«, war alles, was ihm einfiel. »Ich weiß«, sagte Sunny.
    Er ahnte es, bevor sie es sagte. »Du bist die ganze Zeit über wach gewesen.«
    »Ja.«
    »Aber...«
    Ein weiterer Schrei zerriss die Nacht. Calypso stand nur da, still und abwartend.
    Madame Cal war sichtlich geschwächt. Der Blutstrom aus ihrer Wunde versiegte.
    Madame Cacaelia kniete am Boden neben ihrer Schwester.
    »Was tust du da?«, herrschte sie Calypso an.
    »Das, wozu ich hergekommen bin.«
    »Calypso?«
    Die schöne Frau, die den ganzen Weg mit Danny zurückgekommen war, sagte: »Calypso ist längst tot.« Dann brach die Hölle los.
    Die Sirenen heulten auf wie Wölfe, wie der Rougarou, der des Nachts durch die Sümpfe streift und die Sünder und Bösewichte anfällt. Der sich am Fleisch der Ungläubigen und Missetäter gütlich tut.
    Calypsos Augen begannen grün zu leuchten, ihre Lippen bebten, das Kleid rutschte ihr von den Schultern, einen kurzen Moment lang konnte man einen Blick auf ihren Körper erhaschen, der dunkel und geheimnisvoll im Mondlicht glänzte, geformt für die Sünde und besungen von Poeten. Es geschah so schnell, dass Danny sich später fragen würde, ob seine Augen ihn nicht getäuscht hatten. Die Hitze der Nacht empfing die Gestalt der nackten Calypso, und dann wurde sie zu einem Vogel.
    Du wirst mich finden. Am Ende.
    Genau das passierte.
    Ich bin, was du suchst.
    Rasend schnell.
    Der Vogel überragte die beiden Schwestern und wuchs, weiter und weiter, spross dem Himmel entgegen, bis sein Haupt die Kronen der Eichen berührte. Sein buntes Gefieder strahlte wie der Tag, und sein Schlund war tief wie die tiefste Nacht.
    »Nein!«, kreischte Madame Cal.
    Madame Cacaelia war stumm vor Entsetzen.
    »Wer ist das?«, fragte Sunny.
    Danny konnte den Blick nicht von dem abwenden, was da gerade geschah.
    »Das«, sagte er, »ist die Lyra.«
    Es war so weit.
    Der letzte der stymphalischen Vögel stürzte sich auf die beiden Schwestern, die verzweifelt versuchten, ihn mit ihren Gesängen zu töten. Sie sangen unglaubliche Wesen aus den Tiefen der Zeiten hervor, die sich unter den Hieben des Schnabels in Luft auflösten. Sie ließen Heere aus der Asche emporsteigen und sich in die Schlacht werfen. Engel stürzten, und Lügen zerrissen die Wahrheiten. Geschichten erhoben sich und wurden getötet, bevor sie zu atmen vermochten. Es war ein ungleicher Kampf, denn die Gesänge, die all jene Zauber bewirkten, wurden schwächer. Das laute Kreischen der Kreatur übertönte alles. Es ließ selbst die Bäume erbeben. Die Kreolen ergriffen schreiend die Flucht. Die Alligatoren, die ruhig im Bayou gelegen hatten, öffneten ihre Mäuler und machten sich über die Fliehenden her. Alles, was eine Ordnung gehabt hatte, zerfiel.
    Danny begann, seine Frau aus dem Spinnennetz zu lösen. Er riss und zerrte an den Fäden, die ihm auf der Haut brannten. Doch nach und nach schaffte er es, sie zu befreien. Dann flüchtete er mit Sunny zwischen die Bäume.
    »Warum hast du nichts gesagt?«, fragte er Sunny.
    Sie deutete auf den großen Vogel. »Sie hatte es mir geraten.«
    »Calypso?«
    »Ja. Sie kam zu mir, als ich glaubte, du seist bei mir. Sie hat mich gewarnt.«
    Welches Spiel wurde hier bloß gespielt?
    Danny schaute auf das Inferno und wusste nicht, was noch alles passieren würde.
    Senor, senor, do you know where we are headin'?
    Der spitze Schnabel stach auf die beiden Sirenen ein, und ihre Gesänge wurden zu Schreien, in denen Schmerz und Wehmut klagten. Blut rann aus ihren Augen, als sie Verzweiflung weinten, und Tod bebte auf ihren Lippen, die nass vom Lügen waren.
    Lincoln County Road or Armageddon

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