Lyra: Roman
sehen, unbedingt.«
»Ihre Tochter?«
»Ja.«
»Und was ist passiert?«
»Nichts ist passiert.« Sie zauderte. »Ich habe sie gesehen, das ist alles. Sie arbeitete in einem Laden, der Krimskrams feilbot. Sie war alt geworden. Das Leben hatte ihr nichts geschenkt. Ich selbst war jung und schön, dieser Körper war zwanzig Jahre jünger. Es brachte Manner um den Verstand, ihn auch nur anzusehen. Mit meiner Stimme konnte ich tun, was immer ich wollte. Es war mein Leben. Doch ich hatte das Leben anderer dafür geopfert. Ja, ich weiß, späte Reue. Aber so war es.«
»Was haben Sie getan?«, wollte Sunny wissen.
»Ich habe das Maison Rouge verlassen. Ich ging zu dem Raddampfer, der dort draußen vor Ewigkeiten gestrandet war, und dort lebte ich mein Leben.« Ein Lächeln erhellte ihr Antlitz. »Eines Tages im Frühjahr fand ich in den Sümpfen ein verwaistes Nest mit den Eiern kleiner Alligatoren. Ich nahm zwei von ihnen mit nach Hause, aus einer Laune des Augenblicks heraus. Ihnen konnte ich wenigstens Leben schenken.« Sie lachte. »Am Ende schlüpften Nero und Brutus, meine einzige Gesellschaft in all den Jahren.« Sie starrte zu Boden. »Die einzige Gesellschaft, die ich mochte.« Es war eine dumpfe Melodie in ihre Stimme getreten. »Männer, ja, die gab es immer wieder. Aber das, was den heißen Körper für Augenblicke in Ekstase versetzt, ist nichts, was der Seele Ruhe verschafft.« Sie schaute Danny offen an.
»Sie waren einsam.«
Calypso nickte. »Schlimmer als das.« Sie betrachtete den Mond, der hell und klar über den Sümpfen schien. »Irgendwann wurde ich des Lebens einfach überdrüssig.« Sie fuhr resigniert mit der Hand durch die Luft. »Wenn meine Schwestern ihre Erneuerung vollziehen wollten, musste ich ins Maison Rouge zurückkehren, weil sie es ohne mich nicht tun konnten. Sie waren einzeln zu schwach. Jede von uns war das. Wir konnten es nur tun, wenn es alle wollten. So funktionierte das eben. Wir hatten die Gesetze, nach denen wir handelten, nicht gemacht.«
»Wann haben Sie die Lyra getroffen?«, fragte Sunny.
»Als ich ein kleines Mädchen war«, erinnerte sie sich, »habe ich mich einmal in die Welt der Geschichten verlaufen.« Sie schmunzelte. »Ich nannte diesen Ort die Teufelsbucht, wie in dem Film mit den Mäusen, den ich als Kind so mochte. Dort traf ich die Lyra zum ersten Mal. Sie wollte mich töten, weil sie einen Hass auf die Sirenen hegte, aber ich war noch ein Mädchen, und sie hatte Mitleid.«
Ihre Stimme wurde zu einem Lied, das sie alle mit sich nahm. »Ich traf mich oft mit ihr, heimlich. Denn sie versteckte sich, vor den Menschen und vor der Welt. Sie lebte manchmal hoch oben am Sternenzelt, wo sie ruhen konnte. Doch die meiste Zeit verbrachte sie ruhelos auf der Erde. Sie war allein, weil alle anderen, die gewesen waren wie sie, gestorben waren.«
Ein trauriger Gedanke. Die Lyra, der letzte Vogel seiner Art. Das letzte Wesen seiner Art.
»Dann, als die Zeit gekommen war, ging ich wieder zu ihr hin.« Sie schluckte. »Damals, als ich des Ganzen überdrüssig geworden war. Ja, ich ging zu ihr zurück. Ich schenkte ihr mein Leben, und sie nahm es großzügig und dankbar in sich auf.«
Danny starrte sie an.
»Sie hat mich gefressen«, stellte Calypso klar.
Keiner ihrer beiden Zuhörer konnte etwas sagen.
»Damit ging alles, was einst Calypso war, in die Lyra über. So läuft das nun mal, sie hat es mir vorher erklärt. Sie besaß fortan meine Erinnerungen, meine Gefühle, all das, was mich einst ausgemacht hatte. Sie konnte sogar meine Gestalt annehmen.« Jetzt musste sie lachen. »Ja, das war neu. Das hatte sie vorher nicht gewusst.« Sie zwinkerte ihnen zu. »Ist es nicht schön, wenn man noch Neues über sich in Erfahrung bringt, selbst dann, wenn man alt wie die Lyra Danny verstand.
All die Jahre hatte die Lyra im Verborgenen gelebt, doch von dem Moment an, da ihr ein menschlicher Körper geschenkt worden war, hatte sie die Welt neu für sich entdecken können.
»Sie beschloss, die Sirenen zu töten, sobald es ihr möglich war. Doch die einzige Möglichkeit, gegen zwei Sirenen gleichzeitig zu bestehen, war, sie in geschwächtem Zustand zu erwischen.«
Und so wartete sie.
Geduldig.
Bis Danny Darcy in den Süden kam, mit seiner schönen Frau.
»Warum haben Sie mir nichts gesagt?«
»Sirenen«, sagte sie, »wittern eine Lüge. Du hättest dich nie gut genug verstellen können, um sie zu täuschen.« Sie lächelte. »Außerdem hat es doch
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