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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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    Sunny klammerte sich an Danny, als die Welt um sie herum in Flammen aufging.
    »Sie hat mich gewarnt. Ich solle den Tee nicht trinken, sondern nur so tun, als würde ich fest schlafen.«
    Danny fragte sich, was geschehen war. Calypso war in Sunnys Vision aufgetaucht?
    Wie konnte das sein?
    Warum war sie ein Vogel?
    So viele Fragen und nicht die geringste Antwort in Sicht.
    Sunnys Stimme drang an sein Ohr. »Sie wird sie töten, nicht wahr?«
    Er nickte. »Ja, das wird sie.«
    Die Lyra wütete, und ihr Schnabel zerfetzte die Schwestern, die sich bald nur noch wimmernd im Schmutz wanden. Sie bluteten aus Wunden, die sich nie wieder schließen würden. Die Schreie, die sie ausstießen, waren der letzte Gesang, den die Welt von ihnen hören würde. Er schallte durch die Sümpfe, während Schnabel und Krallen der Lyra ihr Werk vollendeten.
    Madame Cacaelia und Madame Cal waren nur noch blutige Massen aus Fleisch und Knochen, als der Bayou sich aufzulösen begann. Die Holzhütte begann zu zerfallen. Die Bretter wurden zu Splittern, zerbrachen im Zorn der Lyra, und der Staub, zu dem sie wurden, bedeckte die Häupter der sterbenden Sirenen. Sie atmeten ein, was einmal die Hütte gewesen war. Sie sangen ein Lied von Staub und Sterben, als sie verschlangen, was einst aus ihnen geboren worden Zwischen den Bäumen erkannte Danny plötzlich das Muster einer Tapete.
    Er sah Fenster mit Vorhängen, unsichtbare Flammen, die züngelten, die Hitze der Geschichten, entfacht zum letzten Mal.
    Der Bayou wurde wieder zu dem Haus, die Welt zu dem Zimmer, in dem sie die beiden Schwestern ausfindig gemacht hatten.
    Danny hielt Sunny ganz fest.
    Fasziniert sahen sie zu, wie auch dieses Haus sich auflöste, in der richtigen Welt.
    Die sterbenden Sirenen kauerten am Boden und sahen noch schrecklicher aus als zuvor in der Vision.
    Ein Sturm brach los.
    Donner grollte, und Blitze zuckten.
    Es war ein Wirbelsturm, der niemanden zurück nach Kansas bringen, entfesselte Gewalt, die nur weit vom fernen Oz wegführen würde.
    Und dann...?
    Erstarben die Schreie.
    Das Maison Rouge war verschwunden. Die leblosen Körper der beiden Sirenen lagen auf der Lichtung, die verwüstet und kalt war. Nur die Eichen waren geblieben, wie mächtige Denkmäler, die ewig schon an diesem Platz lebten.
    Der riesige Vogel stand über allem, und seine güldenen Augen sahen auf den Seemann herab, der seine Sonne in den Armen hielt, eine Sonne, die bald schon einem Stern das Leben schenken würde.
    Dann sank er zu Boden, wirbelte in einer Wolke aus bunten Federn herum und war wieder der nackte Körper einer Frau, die sich das am Boden liegende Kleid überstreifte.
    Sie trat vor die beiden.
    Der Staub legte sich.
    Der Sumpf wurde wieder still.
    Als es vorbei war, stand Calypso vor ihnen, so, wie Danny sie vor wenigen Stunden zum ersten Mal auf dem Raddampfer erblickt hatte.
    »Ich denke«, sagte sie, »dass ich euch eine Erklärung schuldig bin.«
    Das jedenfalls sah Danny genauso.
    Sie saßen auf einem Baumstumpf, an dem Ort, an dem bis vorhin noch das Maison Rouge gestanden hatte.
    Und Calypso begann zu erzählen.
    »Ich habe eine Tochter. Ihr Name ist Epiphany.« Die dunklen Augen sahen traurig aus. »Als sie schwanger wurde, wollte ich ihr das Gleiche antun, was meine Schwestern mit dir vorgehabt hatten, Sunny Darcy.« Sie seufzte. »Alles war vorbereitet. Sie war hier ins Maison Rouge gekommen. Wir hatten uns versammelt, sie hatte den Zypressenharztee getrunken, war eingeschlafen.« Die Melodie, die ihre Stimme war, zersplitterte in viele kleine Bilder. »Doch an L 'Orient verlor sie ihr Kind.« Tränen traten ihr in die Augen. »Es passierte einfach so, ohne Grund, wie Dinge, die schlecht sind, manchmal passieren. Sie begann zu bluten, und dann war es auch schon vorbei.«
    Sunny sah sie erschrocken an. Das Schlimmste, was man sich denken konnte.
    »Das war der Tag, an dem etwas in mir zerbrach. Etwas, was Tausende von Jahren geleuchtet hatte. Ich nahm mir das Kind einer anderen Frau, um einen neuen Körper zu bekommen, aber von da an verspürte ich nur Hass und Abscheu.« Sie blickte auf. »Mir selbst gegenüber.«
    Sunny legte ihr die Hand auf die Schulter, kurz nur, aber warmherzig und ehrlich.
    »Ich wollte nichts mehr mit dem Maison Rouge zu tun haben. Alles dort erinnerte mich an Epiphany und das Kind, das sie verloren hatte.« Sie stand auf und schritt über den Torfboden. »Als ich herangewachsen war, da ging ich noch einmal nach New Orleans. Ich wollte sie

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