Lyra: Roman
Welten verschoben sich, und weiß der Henker was passierte.
Doch hier geschah nichts.
Sie sangen einfach weiter, und gerade diese Ruhe, die über allem lag, machte die Szenerie so bedrohlich. Sie sangen in der fremden Sprache ihrer alten Heimat. Die Melodie klomm aus den Abgründen der Vergangenheit empor, schwebte über dem Bayou, berührte die flackernden Kerzenlichter in den Händen der Kreolen, schwang sich zu den Wipfeln der Zypressen und Eichen empor, um von dort dann wieder niederzusinken auf das Netz, in dem Sunny gefangen war.
Born to run...
Danny sprang auf.
Born to fight...
Er musste es tun. Er spürte die Revolver, die noch in seinen Holstern steckten.
Er würde niemanden töten können, so viel war ihm klar. Aber er entsann sich der Visionen, die er als Kind hatte durchleben müssen. Sie waren schmerzhaft gewesen. Wenn man in einer Geschichte geschlagen wurde, dann tat es im Nachhinein noch immer weh. Ein Schuss mochte sie also eine Weile außer Gefecht setzen. Dann hätte er Zeit genug, um sich etwas einfallen zu lassen.
Also sprang er vor.
Schnappte sich einen kräftigen Ast, der am Boden lag.
Bevor er tatenlos zusehen würde, wie sie Sunny und der Kleinen etwas antaten, würde er eben grob werden müssen.
Er hob den Ast über den Kopf, um Madame Cal damit den Schädel zu zertrümmern.
Sunny oder sie, jetzt zählte es.
Ein Kreole trat auf ihn zu und ling den Schlag ab.
Also den Revolver!
Don 't take your gun to town.
Der Fremde ohne Namen kehrte zurück. Mit geübter Hand zog er die Waffe und zielte auf Madame Cal. Sie war diejenige, die er ausschalten musste. Sie war der Schlüssel, zumindest für den Moment.
Er spannte den Hahn, sein Finger legte sich um den Abzug.
Das alles in Sekundenbruchteilen.
Er wusste, dass man mit dem Herzen schießen musste, niemals mit dem Verstand. Filme und Literatur machten einen das glauben. All den Helden, die ihn gelehrt hatten, wie ein Held sich verhielt, wie ein Held redete, wie ein Held die Waffe zog, würde er Tribut zollen. John Wayne, Henry Fonda, Charles Bronson, Clint Eastwood und Roland Deschain. Sie alle waren seine Lehrmeister gewesen, Geister, die einem kleinen Jungen die Träume von Amerika ins Bewusstsein gebrannt hatten.
Er krümmte den Zeigefinger der rechten Hand.
Und...
Nichts!
Er musste feststellen, dass er wie gelähmt dastand.
Er konnte sich nicht bewegen. Erstarrt wie zur Salzsäule stand er herum und konnte nur zusehen und hören, wie sie ihren Gesang weiter intonierten und es über dem Bayou donnerte.
Die drei Frauen reichten sich die Hände.
Es war ein gespenstischer Anblick.
Sie reichten sich die Hände und sangen weiter.
L 'Orient.
Danny dachte nur einen einzigen Gedanken.
Oh, fuck!
Der Rhythmus wurde von den tiefen Stimmen der Kreolen geschöpft, dort drüben im Wasser.
Heiß wurden die Gesänge. Die Kreolen, die überall ihre Kerzen hielten, bewegten diese jetzt. Die Frauen unter ihnen stimmten in den Gesang der Sirenen mit ein.
Die Hitze steigerte sich, die Luft begann zu brodeln.
Danny sah, wie Glühwürmchen zu kleinen Flammen wurden und vor aller Augen in der Luft verbrannten. Der Himmel war rot besprenkelt mit entzündeten Erwartungen.
»Nein!«, schrie er.
Denn schreien konnte er noch.
Verdammt, verdammt.
Nur schreien, sonst nichts.
Er würde hilflos zusehen, wie sie seine Tochter töteten. Denn genau das hatten sie vor, Jenny würde sterben, und ihr Körper wäre ein Gefäß für diese schreckliche Sirene, die nicht alt werden wollte. Sie alle würden hier sterben, in diesem schwülen Sumpf, am Ende der Welt.
»Lasst sie IN RUHE!«
Dann, als seine Verzweiflung am größten war, geschahen zwei Dinge auf einmal. Sunny schlug die Augen auf. Er konnte es genau sehen.
Sie riss sie auf, als habe sie nur auf diesen Augenblick gewartet. Ihre Finger bewegten sich, versuchten, dem Spinnennetz zu entkommen. Und ihre blauen Augen, diese Seen, in denen sich die ganze Schönheit Minnesotas spiegelte, diese Augen, in die zu blicken Danny nie müde geworden war, diese Augen waren jetzt weit offen, und sie sahen, was er auch sah.
»Hey!«, schrie sie, und sie klang wütend.
Die Melodie zerbrach in dem Moment, in dem Sunnys grelle Stimme die Nacht zerriss.
Madame Cal stockte.
Starrte aufs Spinnennetz.
Die beiden funkelten einander an.
»Du bist wach!«
»Schlampe«, war alles, was Sunny sagte.
Doch bevor sich Madame Cal darüber wundern konnte, ließ Calypso die Hände ihrer Schwestern los.
»Was?«
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