M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
dass …«
Süden schlang die Arme um sie und drückte sie an sich. Sie hatte ihn nicht kommen sehen. Ihr Körper bebte. Vor Husten brachte sie kein Wort mehr hervor. Süden ließ sie nicht los. Ihr Make-up war verschmiert, der Knoten ihrer Haare löste sich. Zum ersten Mal sah Süden, wie lang und mächtig ihre Haare waren. Mit einer heftigen Bewegung presste sie sich an ihn, als wollte sie ihn durchs Zimmer schieben. Er bewegte sich nicht von der Stelle. Edith Liebergesell rieb ihr Gesicht an seinem Hals, ihr Keuchen verstümmelte ihre Worte.
»Ich mach … nicht mehr … weiter, Süden. Ich geb die Detektei auf. Die Patrizia stelle ich frei und … und … dich auch, du findest eine neue …«
Von der zweiten Stimme, die aus der Ferne kam, nahmen sie erst Notiz, als das Klopfen lauter wurde. Süden ließ seine Chefin los, und beide sahen zur Tür. Dort stand in blauen Socken und einem langen weißen Sweatshirt, das ihr bis zu den Knien reichte, die bleiche wankende Patrizia und hämmerte mit den Knöcheln ihrer linken Hand an den Türrahmen. »Ich bin auch noch da«, sagte sie mit unbeholfener Stimme. »Wie geht’s denn dem Leo? Hat er schon was essen können?«
27
G egen Abend an diesem ersten Samstag im Februar aß Patrizia Roos eine Scheibe Brot mit Butter und Salz und trank eine Tasse schwarzen Tee mit Milch. Süden saß ihr gegenüber in der Küche und störte sich nicht daran, dass sie schmatzte und schlürfte und stöhnte. Er war erleichtert, dass sie nach den Strapazen und dunklen Erlebnissen schon hier saß und nicht länger in einem komatösen Schlaf lag. Eine Stunde zuvor hatte Edith Liebergesell sich auf den Weg nach Haidhausen gemacht, um in Kreutzers Wohnung nach einem Testament oder der Adresse eines Notars zu suchen. Vor ihrer Abfahrt hatte Süden im Polizeipräsidium angerufen, weil er den Mordermittler Bertold Franck über Kreutzers Tod informieren wollte. Wie er befürchtet hatte, war der Kommissar am Wochenende nicht im Dienst. Er hinterließ eine Nachricht und bat um Rückmeldung. Bei einem weiteren Anruf in Starnberg erklärte ihm der Hotelier Geiger, seine Tochter sei von ihrem Ausflug noch nicht zurückgekehrt. Er habe ihr aber, wie versprochen, mittags ausgerichtet, sie möge ihn, Süden, zurückrufen. Er könne nicht erklären, warum sie es bisher nicht getan habe. Nach diesem Gespräch hätte Süden am liebsten ein Bier getrunken.
Wie Patrizia trank er Tee, mit Milch und Zucker. Er kämpfte gegen eine Müdigkeit an, die, wie er vermutete, nicht vom Schlafmangel kam. Ihn erschöpfte das Anrennen gegen die Gummiwände, von denen er seit Tagen umgeben schien; die Gespräche ohne Widerhall; die Begegnungen mit Personen, die souverän ein falsches Spiel mit ihm spielten; das Ausgeliefertsein und die Lautlosigkeit ringsum; die Routine der Behörden mit ihren bekannten und vertrauten rhythmogenen Ursachen.
»Dann haben sie ihn ermordet«, sagte Patrizia leise. An ihrem Kinn hingen Brotkrümel. Die Übelkeit ließ nach. Doch wenn sie versuchte, sich auf die vergangene Nacht zu konzentrieren, versank sie in einem schwarzen Sumpf. Sie erinnerte sich an nichts. Als Süden ihr behutsam einige Fragen stellte, fiel ihr allmählich ein, dass sie Mia Bischof von der Redaktion in der Augustenstraße zum Bahnhof gefolgt und mit der S-Bahn nach Starnberg gefahren war. Dann fehlte ein Stück in ihrer Erinnerung, bevor sie das Hotel wieder vor sich sah, an dessen Auffahrt sie gestanden und über dem Eingang die goldfarbene Schrift auf dem geschwungenen Schild gelesen hatte: »Hofhotel Geiger am See«. Danach hörten die Bilder wieder auf.
Daran, dass sie vorhin im Bett gesagt habe, sie sei in Mias Zimmer gewesen, erinnerte sie sich so wenig wie an die Verfolgung von Mia Bischof vom Bahnhof in Starnberg bis ins Hotel. Wie die Taxiquittung in ihre Hosentasche geraten war, blieb ein Rätsel, ebenso wie ihr Weg an den Tümpel nahe der Isar, wo sie nie zuvor gewesen war. Ins Krankenhaus oder zu einem Arzt zu gehen, der Nachtdienst hatte, lehnte sie ab. In ihrer Wohnung fühlte Patrizia sich aufgehoben und beschützt. Außerdem, erklärte sie, gehe es ihr etwas besser, abgesehen von den regelmäßig auftretenden Schwindelgefühlen und ihrer allgemeinen Verwirrung wegen der Erinnerungslücken.
»Ich schäm mich so.« Sie legte eine Hand auf Südens Arm. Inzwischen trug sie über dem Sweatshirt einen gelb-grün-gestreiften Winterpullover, dazu hatte sie Jeans und über die blauen Socken ein Paar
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