M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
mit den Kindern organisieren, und im Mai, wenn das Wetter schön ist, ein Fußballturnier für die Frauen. Wir waren letztes Jahr in Mecklenburg und sind Zweiter geworden, hinter dem Sturm 18. Ich bin grad dabei zu verhandeln, ob die Löwen uns einen Platz zur Verfügung stellen. Die Hamburger Terrormiezen wollen auch wieder dabei sein. Wenn die in einer Mannschaft spielen, hat der Gegner nichts zu lachen.«
»Das wär doch ein guter Termin für den ersten Einsatz der Ersthelfer.« Thal tätschelte wieder ihr Knie. Sie stieß seine Hand weg. Der Mann neben Thal grinste.
Sie ging auf seine Bemerkung nicht ein. »Auf jeden Fall fahren wir Frauen im Sommer nach Hamburg zu einer Veranstaltung für Dönitz. Das hat Tradition.«
»Da werden deine Kollegen im Norden wieder was zu schreiben haben.«
»Wen kümmert das?«, sagte Mia Bischof. Wichtiger war, dass sie nicht vergaß, neue Trikots für ihre Spielerinnen zu bestellen.
Fast drei Stunden verbrachten sie in dem Zimmer und taten wenig. Abwechselnd sah einer von ihnen nach Patrizia, brachte Wasser aus der Küche mit, setzte sich auf die gelbe Couch oder an den grünen Tisch, stand auf, öffnete das Fenster und schloss es wieder. Ich weiß nicht weiter, dachte Süden und sagte es nicht. Ich hab Angst, dachte Edith Liebergesell und sagte es nicht. Wenn sie, wie zwanghaft, an ihren Sohn denken musste, kniff sie die Augen zusammen, als würde die Nacht dann aus ihrem Kopf verschwinden. Wenn Süden, was ihn verwirrte, plötzlich an seinen toten Freund Martin denken musste, blickte er zur Tür, als käme Martin gleich herein und sähe verboten aus.
»Martin sah immer verboten aus«, sagte er, als führten sie ein Gespräch über ihn. Edith, die am Fenster rauchte, nickte und blies den Rauch auf die Straße. Sie wäre am liebsten gesprungen, bloß, um irgendetwas zu tun.
»Entschuldige«, sagte Süden.
Dann schwiegen sie wieder, bis zum Hals voller Worte und mit einer Zunge aus Zement. Jemand müsste hereinkommen und ihnen Anweisungen erteilen. Noch besser wäre, Leonhard Kreutzer käme herein und würde von einem Wunder erzählen.
»Wir könnten an einer Tankstelle einen Kanister kaufen und ihn mit Benzin füllen«, sagte Edith Liebergesell. »Wir fahren nach Neuhausen und fackeln das Lokal ab. Vorher sperren wir von außen die Tür zu, so dass aus dem Bergstüberl ein Verbrennungsofen wird. Was hältst du von der Idee?«
Süden schwieg. Er hatte einen Geruch nach modrigem Rauch in der Nase.
»Und wenn noch Benzin übrig ist«, sagte Edith Liebergesell, »gehen wir rüber in die Maillingerstraße und zünden das LKA an. Dann lassen wir uns festnehmen, gehen ins Gefängnis und bekommen jeden Tag mindestens eine warme Mahlzeit, zeitlebens. Das Leben geht weiter, wir brauchen uns um nichts mehr zu kümmern. Sollen wir das so machen?«
Süden schwieg.
Nach zwei oder vier Minuten sagte Edith Liebergesell: »Auf dem Totenbett habe ich Ingmar versprochen, dass ich seine Mörder finden werde. Ich habe ihn angelogen. Was passiert mit einem, der sein totes Kind anlügt? Ich verrat’s dir. Nichts. Schau mich an. Du sollst mich anschauen, verdammt.«
Süden schaute sie an.
»Hier bin ich. Eine übergewichtige Geschäftsfrau. Kein Kainsmal, nirgends. Ich habe ihm ein Versprechen gegeben und es nicht gehalten. Zehn Jahre sind vergangen. Noch vor ein paar Tagen dachte ich, jetzt ist Frieden, jetzt lass ich ihn ruhen und vergebe der Polizei. Schau mich an. Ich habe sogar mich selber angelogen. Das stimmt nämlich gar nicht: Da ist kein Frieden in mir, sondern ein Weltkrieg.«
»Da ist kein Weltkrieg in dir«, sagte Süden.
»Woher willst du das denn wissen?«, schrie sie. »Du kennst mich nicht. Du weißt nicht, wie’s in mir ausschaut, weil das niemand weiß. Weil ich da niemanden reinschauen lasse. Und wenn ich sage, da ist ein Weltkrieg in mir, dann ist da ein Weltkrieg.«
Sie hatte so laut geschrien, dass sie nach Atem rang und husten musste. Sie wischte sich über den Mund und schrie weiter. »Und ich kann nicht mal für meine eigenen Mitarbeiter sorgen, und wieso? Weil ich eine miserable Geschäftsfrau bin. Erst war ich eine verlogene Mutter, und jetzt bin ich eine Geschäftsfrau, die nichts taugt. Die ihre Leute zusammenschlagen lässt und sich einen Dreck um sie kümmert. Das ist alles ein einziger Dreck, in den ich euch reingezogen hab, und dann lass ich euch auch noch drin verrecken. Wieso ist das alles so gekommen? Wieso denn? Was hab ich verbrochen, dass …
Weitere Kostenlose Bücher