M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
nachweisen, dass sein Herzversagen eine unmittelbare Folge des Überfalls war. Schwere Körperverletzung mit Todesfolge.«
»Und wenn die Täter nicht gefasst werden? Wenn es so wird wie bei meinem Sohn? Wenn wir nichts beweisen können? Wenn Mia Bischof, ihr Vater und alle anderen ungeschoren davonkommen? Wenn Staatsschutz und Verfassungsschutz und das LKA uns am ausgestreckten Arm verhungern lassen? Wenn der Taxifahrer wieder auftaucht und abgeschirmt wird, bis er irgendwo mit einer neuen Identität ein ruhiges Leben anfangen kann? Uns sagt niemand was. Nicht in hundert Jahren werden deine Ex-Kollegen uns einweihen. Du kennst die Hierarchien, du weißt, wie sie sich gegenseitig schützen. Wenn die verschiedenen Behörden sich bekämpfen, erfahren wir erst recht nichts, weil sie selber nicht mehr durchblicken. Haben wir alles schon erlebt.
Ich will keine Marionette sein, Süden. Ich will mich wehren und weiß nicht, wie. Mir fehlt grade die Kraft, und der Mut auch. Leo ist tot, und wir haben ihn allein gelassen. Er war nicht betreut beim Alleinsein, Süden, er ist überfallen und verschleppt worden und gestorben.
Und Patrizia war auch nicht betreut beim Alleinsein. Jemand hat sie bewusstlos gemacht und wollte sie ertränken, das glaube ich mittlerweile auch. Wie wäre sie sonst bis zum Fluss gelangt? Die ist doch nicht auf eigenen Beinen dort hin, sie war wehrlos. Wir haben versagt, und jetzt sind wir feige.
Und weißt du, was mich seit zwei Stunden besonders umtreibt? Dass ich mir plötzlich wünsche, beten zu können. Stell dir das vor. Ich denke die ganze Zeit, wenn ich gottesfürchtig wäre, hätte ich einen Ansprechpartner irgendwo über den Wolken. Das wäre dann eine Erleichterung. Klappt aber nicht. Ich habe schon vor langer Zeit aufgehört zu beten und nie wieder damit angefangen. Der Gott meiner Kindheit existiert nicht mehr. Als der Sarg mit meinem Ingmar in die Erde gelassen wurde, habe ich um ihn geweint und geweint und geweint, und ich habe dem Pfarrer die Hand geschüttelt, aber kein einziges Gebet gesprochen. Zwei Wochen nach der Beerdigung bin ich aus der Kirche ausgetreten. Bist du noch in der Kirche?«
»Ich vergesse immer auszutreten«, sagte Süden.
»Dann glaubst du an eine höhere Macht und ans Weiterleben nach dem Tod.«
»An eine höhere Macht glaube ich, wenn ich eine Rose sehe oder den Übermut in den Augen eines Kindes. Ans Weiterleben nach dem Tod glaube ich nicht. Aber ich habe in meinem Leben Menschen getroffen, denen würde ich wünschen, dass sie nach dem Tod endlich anfangen zu leben.«
»Wer glauben will, soll glauben. Gott hat meinen Sohn nicht ermordet, das waren Kidnapper. Damals habe ich begriffen, dass ich Gott keinen Vorwurf machen kann. Was kümmert ihn unsere armselige Existenz? Was kümmert mich seine Abwesenheit? Wozu also Steuern zahlen und sich einreden, es gäbe einen Trost außerhalb der Welt. Gibt’s nicht, alles Einbildung. Wenn du keinen Menschen findest, der dich tröstet, bleibst du eben ungetröstet bis zum Ende deiner Tage, in Ewigkeit, Amen.«
Sie legte beide Hände vors Gesicht und nahm sie lange nicht weg.
Süden schwieg. Dann sagte er: »Wir haben Fotos aus der Wohnung von Mia Bischof. Wir werden Zeugen finden, die Patrizia in Starnberg und vor ihrer Haustür in Untergiesing gesehen haben. Wir können beweisen, in welchem Milieu die unbescholtene Journalistin verkehrt. Wir haben etwas in der Hand.«
»Ja.« Edith Liebergesell betrachtete die Innenflächen ihrer Hände. »Sand. Da ist nichts als Sand, und morgen ist er verschwunden, und wir stehen wieder mit leeren Händen da. Wie die meiste Zeit in unserem Leben.«
Süden wartete, ob sie noch etwas sagen wollte. Dann stand er auf und ging ins Schlafzimmer, um nach Patrizia zu sehen. Edith Liebergesell schaute immer noch ihre Hände an, die sich in die ihres achtjährigen Sohnes verwandelten. Ingmars Hände waren immer so kalt gewesen.
Das Sammeltaxi kam pünktlich, und Mia Bischof hatte vor, sich neben den Fahrer zu setzen. Doch Georg Thal schob sie auf die zweite Bank und setzte sich, gemeinsam mit einem seiner Freunde, neben sie. Die übrigen vier Männer, von denen drei blaue Fanschals trugen, nahmen auf der Bank vor ihnen und auf dem Beifahrersitz Platz. Reden wollte sie nicht, aber sie hatte keine Wahl.
»Alles erledigt wegen der Frau?« Thal klopfte ihr mit der flachen Hand aufs Knie. »Das war ein Ding, dass die sich mit einer Perücke zu uns reinschleicht. Was wollte die
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