M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
raus.
Warum er geschlagen wurde, begriff er nicht. Er würde doch nicht weglaufen, er hockte auf einem Bett und hing am Gitter fest. Außerdem hatte er Hunger und Durst. Sein Herz schlug viel schneller als sonst. Als wollte es aus seinem Körper raus und weghüpfen, wie Billy, der plötzlich in Ingmars Vorstellung herumsprang.
Wenn er sich etwas ausdachte, vergaß er, wo er war und die Schmerzen und die Einsamkeit. Er kraxelte dann über den Zaun und rannte die Ainmillerstraße entlang bis zur breiten Leopoldstraße, wo die Autos keine Dächer hatten und die Leute auf dem Gehsteig in der Sonne saßen und rote, blaue und gelbe Getränke mit Strohhalmen tranken. Die würde er gern probieren, aber das hatte ihm seine Mutter verboten. Als sie mal im Sommer in Richtung Münchner Freiheit gegangen waren, war er plötzlich stehen geblieben und hatte zu einer Frau gesagt, die an einem runden Tisch saß und ein Glas mit etwas Grünem drin in der Hand hielt: »Darf ich mal zuzeln?« Die Frau lachte, und seine Mutter entschuldigte sich für ihn und zog ihn weiter und schimpfte ihn aus. Später, auf dem Platz an der Münchner Freiheit, wo die Schachspieler ihre großen Figuren hin und her schoben, durfte er sich dann trotzdem zwei Eiskugeln aussuchen, und er wählte eine grüne und eine blaue, und sie schmeckten seltsam.
Wenn er in seinem Kopf eine Zeitlang woanders gewesen war, ertrug er das krumme Dasitzen auf dem Gitterbett leichter. Er schnupperte. Es roch nicht gut.
Als er das Türschloss hörte, drehte er den Kopf. Jemand kam herein und blieb vor dem Bett stehen. Vielleicht war es ein Parfüm, das er roch. Er tat aber so, als würde er nicht atmen. Dann bekam er eine Ohrfeige und erschrak, und eine Frauenstimme sagte: »Wenn du schreist, stirbst du.« Er schrie nicht. Seine Tränen versickerten lautlos im Schal. Jetzt hielt ihm die Frau ein Glas an die Lippen. Milch. Er trank gierig. Dann schob die Frau ihm einen Keks zwischen die Zähne, der ihm nicht schmeckte. Aber er kaute schnell und schluckte alles runter. Er trank das Glas leer und verschluckte sich und hustete und spuckte Krümel aus. Dann war es still. Er überlegte, ob die Frau noch im Zimmer war. Riechen konnte er sie nicht mehr. Er horchte.
An dem Tag, als sie ihn einsperrten, hatte ein Mann zu ihm gesagt, er würde ihn umbringen, wenn er einen Ton von sich gebe. Wenn er still blieb, würde sein Mund nicht zugebunden werden. Darüber war Ingmar glücklich. Er hatte solche Angst zu ersticken, wie beim Zahnarzt, wenn der in seinem Mund herumwerkelte und mit dem Finger dem ganzen Atem den Weg versperrte.
Das Geräusch des Schlüssels im Türschloss ließ ihn zusammenzucken. Er überlegte, was die Frau so lange im Zimmer gemacht und ob sie ihn die ganze Zeit angeschaut hatte.
Er würde bestimmt nicht schreien.
Er durfte nicht sterben, weil zu Hause seit ewig langer Zeit Mister Mufasa auf ihn wartete.
29
S ie ging von Zimmer zu Zimmer, weil sie nicht wieder einschlafen, sondern sich endlich erinnern wollte. Kurz nachdem der LKA-Mann ihre Wohnung verlassen hatte, nicht ohne undefinierbare Drohungen ausgestoßen zu haben, war auch Süden gegangen. Sie hatte ihm versichert, dass sie sich im Notfall sofort bei ihm oder Edith melden würde. Das Alleinsein tat ihr gut. Die Stille marterte sie.
Die Stille, so schien ihr, vergrößerte den schwarzen Abgrund ihrer Erinnerung noch. Nichts, kein Bild. Das Hotel – Schnitt – die Wiese am Tümpel. Immer wieder stellte sie sich auf ihrer Zimmerreise dieselben Fragen: Was war im Hotel geschehen? Wie war sie nach München zurückgekehrt? War sie tatsächlich allein bis zur Isar gelaufen? Wozu? Und wann hatte sie, wie Süden ihr bestätigt hatte, mit Mia Bischof gesprochen? Und worüber? Was hatte sie getrunken?
Im engen Flur blieb sie mit einem Ruck stehen. Vor ihren Augen entstand das Bild einer Bar, einer Hotelbar. Und gleich darauf, als würde es mit dem ersten verschwimmen, ein zweites Bild. Sie ging eine Treppe hinunter. Unten wollte sie die Toilettentür öffnen, da sprach ein Mann sie an. Im nächsten Moment schlug er zu, und sie stürzte zu Boden. Jetzt ging alles schnell. Wie Splitter rasten einzelne Stücke ihrer Erinnerung ineinander und ergaben ein Bild. Sie saß im Büro des Hoteliers, jemand hatte sie dorthin gebracht, Geiger, natürlich. Er hatte ihr aufgeholfen und sich für das Benehmen seines Mitarbeiters entschuldigt. Vorher hatte sie an der Bar einen Wein getrunken. Und auf Mia Bischof gewartet.
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