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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Mappe auf dem Tisch lag, erschrak sie, obwohl sie wusste, was sie erwartete.
    Wie unter einem bösen Zwang hatte sie den zotteligen Stofflöwen aus dem niedrigen Korbstuhl im Schlafzimmer gehoben, an ihm gerochen und ihn so fest an sich gedrückt, bis sie aufhörte zu weinen. Im Wohnzimmer hatte sie ihn auf die Couch gesetzt und minutenlang angestarrt. Es kam ihr vor, als führe sie Handlungen aus, die jemand ihr vorgab.
    Eigentlich war es das Letzte, was sie tun wollte: dieses Plüschtier zu berühren, das sie bei ihren früheren Besuchen nie bemerkt hatte. Wie auch, dachte sie, im Schlafzimmer war sie nie gewesen und die Tür war immer verschlossen. Da sie in den Schränken im Wohnzimmer kein Dokument über Kreutzers Nachlassregelung und keinen Hinweis auf einen Notar entdeckt hatte, öffnete sie notgedrungen die Schlafzimmertür. Und das Erste, was sie sah, war Mister Mufasa auf seinem Stuhl. Vor Schreck trat sie einen Schritt zurück und zog die Tür wieder zu. Wie lächerlich, dachte sie und sagte vor sich hin: »Ich habe keine Zeit zu verlieren, auf geht’s!« Aber dann verharrte sie vor dem Bett, anstatt gleich die Kommode zu durchsuchen. Sie betrachtete den Stofflöwen eine Weile, bevor sie Schritt für Schritt auf ihn zuging, ihn hochhob und zu weinen begann. Sie umarmte ein weiches, warmes, vertrautes Gespenst.
    »Du bist doch tot«, sagte sie jetzt zu Mister Mufasa. Sie hatte die Mappe, die in der obersten Schublade der Kommode gelegen hatte, vom Tisch genommen und sich auf die Couch neben den Löwen gesetzt. Mit gefalteten Händen drückte sie die Mappe auf ihre Knie.
    »Du bist doch ermordet worden.«
    Einen Monat nach der Beerdigung ihres Sohnes hatte sie sein liebstes Kuscheltier in eine Plastiktüte gepackt und im Müllcontainer versenkt. Sie hatte den Anblick nicht mehr ertragen. Gemeinsam hatten sie ihn Mister Mufasa getauft, der Name war ihre Idee gewesen, auf der Anrede hatte Ingmar bestanden. Da war er sechs Jahre alt.
    »Schau, Ingmar.« Ihre Stimme war gut zu verstehen, aber sie nahm sie kaum wahr. »Der alte König ist auferstanden von den Toten. Ist das nicht ein tolles Wunder? Er hat die ganze Zeit bei der Inge gelebt, und Leo hat uns kein Wort verraten. So ein Geheimniskrämer. Heimlich geraucht hat er nämlich auch. Die Leute haben alle ihre Geheimnisse, du auch. Deinen Freund Billy durfte niemand sehen, dein Papa und ich auch nicht. Ich habe ihn nur durch Zufall entdeckt, im Hof, im Gebüsch am Zaun, gut versteckt hast du das Glas. Als ich dich gefragt habe, ob du das Glas da hingestellt hättest, hast du nein gesagt. Aber du bist sofort in den Hof geflitzt, um zu schauen, ob der Frosch noch drin saß. Billy hieß er. Als ich wissen wollte, wieso er so heißt, hast du gesagt, wegen dem Möbel, weil das so einen schönen Namen hat. Das war bestimmt der erste Frosch der Welt, der nach einem schwedischen Regal benannt worden ist.
    Der Billy ist auch schon lange tot. Schon so lang, so lang. Mister Mufasa ist wieder da. Ich werde ihn nicht mit nach Hause nehmen. Er muss allein bleiben und Leos Zimmer bewachen, weil doch sonst keiner mehr da ist.«
    Sie wollte das Stofftier noch einmal streicheln, traute sich aber nicht. »Du würdest ganz schön mit mir schimpfen, wenn du mich hören könntest. Das mochtest du überhaupt nicht, wenn ich vor mich hin gebrabbelt habe. Ich glaube, du hattest Angst, dass ich verrückt werde. Bin ich nicht geworden. Das ist eigentlich erstaunlich nach allem, was passiert ist. Zu den Leuten sage ich immer, sie sollen behutsam mit ihrer Hoffnung sein, wenn sie einen Angehörigen suchen lassen, man weiß nie, was am Ende herauskommt. Aber ich, ich war nicht behutsam mit meiner Hoffnung. Ich habe ein Hochhaus aus Hoffnung gebaut, und in dem hab ich gelebt, jeden Tag, jede Minute. Bis zum Ende.«
    So abrupt, wie sie begonnen hatte zu sprechen, verstummte sie. Die Mappe an sich gepresst, stand sie von der Couch auf und verließ, ohne einen weiteren Blick auf irgendeinen Gegenstand zu werfen, das Zimmer, die Wohnung, das Haus in der Preysingstraße.

    Seine Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt, die Schnüre schnitten ihm ins Fleisch. Das spürte er fast nicht mehr. Das Schlimmste für ihn war, dass er nichts sehen konnte. Einer der Kidnapper hatte ihm mit einem stinkenden Schal die Augen verbunden und einen Knoten gemacht, der gegen seinen Kopf drückte. Manchmal schlug ihm jemand ins Gesicht. Dann kamen die Tränen wegen des Schals nicht richtig aus seinen Augen

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