M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
sein Zittern und nahm das Kuvert samt Brief und ließ beides nach dem Lesen fallen.
»Stört’s dich, wenn ich mich neben dich setze?«, fragte Robert Schultheis.
Sie rückte ein Stück, obwohl genügend Platz war. Schon die ganze Zeit schaute sie das grüne Trafohäuschen der Spielzeugeisenbahn an, und ihr Mann hatte sie eine Zeitlang dabei beobachtet, ohne dass sie die geringste Notiz von ihm genommen hatte. »Wo kommst du her?«, fragte sie.
»Aus der Küche, hab mich mit Frau Bauschmidt unterhalten.«
»Mit wem?«
»Der Kommissarin.«
Edith sah ihn an. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie ihn ihr eingefallenes Gesicht erschütterte. »Du musst dich nicht erschrecken«, sagte sie. »Ich bin’s, deine Frau.«
Er legte den Arm um sie. Sie lehnte sich an ihn. Draußen sang immer noch die Amsel, als wäre sie eine Kommissarin fürs Beflügeln.
Edith und Robert Schultheis saßen minutenlang stumm und steif auf der Couch und bemerkten die Frau im Türrahmen nicht, die aus der Küche gekommen war und alle fünf Minuten auf die Uhr sah.
Für Verena Bauschmidt, die sechsundvierzigjährige Hauptkommissarin der Vermisstenstelle, hieß jede Stunde, die ohne einen Anruf ihres Vorgesetzten verging, ein Wort weniger an Zuversicht, ein Satz mehr von Schuld und Unvermögen, ein Schweigen zu viel.
Im Augenblick untersuchten ihre Kollegen die Vermögensverhältnisse der beiden Geschäftspartner von Schultheis, Gregor Hopf und Imke Wiegand. Soweit die Kommissarin bisher erfahren hatte, gab es vor allem im Umfeld des achtundvierzigjährigen Maklers Hopf gravierende Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit dubiosen Aktiengeschäften und Vermögenstransfers in die Schweiz. Nach den bisherigen Erkenntnissen der Ermittler hatte Hopf Schulden in Höhe von knapp einer Million Euro, offensichtlich waren umfangreiche Bauprojekte in Portugal und Spanien geplatzt, an denen er auf privater Basis beteiligt war. Von diesen Vorgängen wusste Schultheis ebenso wenig wie von den Recherchen der Kripo. Darüber würde er erst nach Abschluss des Entführungsfalles informiert werden, und Thon hatte seine Kollegin eindringlich ermahnt, dem Ehepaar keinerlei Auskünfte über den Stand der Ermittlungen zu erteilen.
Woran Verena Bauschmidt keinen Zweifel hatte, war, dass sie es sein würde, die den Eltern am Ende die Nachricht überbringen musste, wie schon mehrmals nach dramatischen Suchaktionen mit tragischem Ausgang.
Sie wandte sich von der Wohnzimmertür ab und ging lautlos zurück in die Küche, wo sie am Tisch stehen blieb und auf ihre Armbanduhr schaute.
»Wie spät ist es?«, fragte Edith Schultheis ihren Mann, der sie immer noch festhielt.
»Ungefähr zwei.«
»So spät?« Sie warf ihm einen erschöpften Blick zu. »Hast du schon was gegessen?«
»Nein«, sagte er. »Hast du Hunger? Soll ich dir eine Suppe machen?«
»Ich hab keinen Hunger.«
»Du hast nichts gefrühstückt, nur eine Tasse Kaffee.«
Sie nickte, sah zur Eisenbahn in der Ecke und stieß unvermittelt einen Seufzer aus, der so laut war, dass ihr Mann zusammenzuckte und die Kommissarin aus der Küche herübergeeilt kam. Edith atmete mit weit offenem Mund, als würde sie jeden Moment hyperventilieren. Sie entzog sich der Umarmung ihres Mannes, winkelte die Arme an, ballte die Fäuste und atmete keuchend ins Zimmer, vermischt mit einem leisen, tierähnlichen Wimmern. Weder die Kommissarin noch Robert Schultheis hatten eine Idee, was sie tun sollten.
So abrupt, wie sie damit begonnen hatte, hörte Edith auf zu keuchen. Sie schloss den Mund, nur ihre Schultern zuckten noch unter der beigefarbenen Strickjacke. Es sah aus, als wäre ihr plötzlich bewusst geworden, was gerade mit ihr passiert war. Behutsam öffnete sie die Fäuste, ließ die Finger mit den unscheinbar lackierten Nägeln eine Weile ausgestreckt, legte die Hände über Kreuz in den Schoß und wandte den Kopf zur Kommissarin. »Mein Sohn lebt nicht mehr«, sagte Edith Schultheis. »Ich weiß, dass er gestorben ist, weil der Täter das so wollte. Hab ich recht?«
Wie aus Versehen trat die Kommissarin einen Schritt ins Zimmer. »So was dürfen Sie nicht denken. Meine Kollegen sind alle unterwegs, niemand hat sich bisher gemeldet, sie tun, was sie können, und sie sind sehr gut darin. Haben Sie Geduld, bitte.«
»Mein Sohn lebt nicht mehr«, wiederholte Edith. Sie sah ihren Mann an, der seine Hände in den Hosentaschen verbarg, und küsste ihn auf den Mund. »Wir haben Ingmar verloren«, flüsterte
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