M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
wie von Frühlingsvögeln. Es war erst der zweite Februar, aber Edith Schultheis bildete sich ein, dass heute Ostersonntag war, Auferstehung, und unten im Hof spielten übermütige Kinder. Und eines von ihnen wäre Ingmar, ihr Sohn.
Die Sonne schien, das stimmte. Und ein paar Amseln sangen, das stimmte auch. Doch im Hof und auf der Straße spielten keine Kinder. Und Ingmar war seit sieben Tagen verschwunden. Er war acht Jahre alt und nicht von zu Hause weggelaufen, sondern entführt worden. Die Polizisten sagten, er würde noch leben.
Hauptkommissar Thon, der Leiter der Vermisstenstelle, ein gutgekleideter und nach gutem Rasierwasser duftender Mann, betonte immer wieder, sie möge Ruhe bewahren und darauf vertrauen, dass die Täter ausschließlich am Geld interessiert seien und ihren Sohn nach der Übergabe rasch freilassen würden. Ja, für das Interesse der Entführer hatte sie Verständnis. Eine Million Euro waren nicht zu verachten. Vor zwei Tagen hatte ihr Mann das Geld am Ende der Garmischer Autobahn bei Eschenlohe deponiert, in zwei grauen Müllsäcken auf einem Rastplatz. Seitdem bewahrte sie noch mehr Ruhe als zuvor. Die Tabletten halfen ihr dabei. Sie saß auf der Couch und schaute zur offenen Balkontür. Zwischendurch kippte sie zur Seite und schlief eine Stunde, oder eine Minute.
Ihr Mann kochte Kaffee für Hauptkommissar Thon und dessen Kollegin Bauschmidt. Edith Schultheis hatte begriffen, dass die Kommissarin für die Gespräche von Frau zu Frau zuständig war. Zum Glück redete die Kommissarin nicht viel, das war extrem wohltuend, und Edith schenkte ihr deswegen manchmal ein Lächeln. Dann wirkte Frau Bauschmidt etwas verunsichert, was eine schöne Ablenkung für Edith war. Genau wie das Zwitschern des Vogels im Baum, denn mehr als einer hockte nicht im Geäst, das horchte Edith sich nur ein.
Seit Montag war ein Jahr vergangen. Dabei wäre Ingmar beinahe gar nicht in die Schule gegangen, dachte Edith wieder und wieder. Am Samstag hatte er über Magenschmerzen geklagt, und im Lauf des Tages musste er sich zweimal übergeben. Er war sehr tapfer, weinte nur wenig. Gemeinsam mit seinem Vater schaute er die Sportschau im Fernsehen und freute sich über den Sieg des FC. Als das erste Tor gezeigt wurde, klatschte er aufgeregt und strampelte mit den Beinen. Wieder einmal fiel Edith auf, wie dünn sein Körper war. In dem engen grünen Schlafanzug, den er am liebsten trug, sah er noch schmaler aus; zerbrechlich. Das war das Wort, das ihr im Kopf hing und nicht verschwand: zerbrechlich. Um acht lag er im Bett, sein Vater las ihm noch eine Geschichte vor, nur fünf Minuten, dann schlief Ingmar schon fest. Sie küsste ihn auf die Stirn. Am Sonntag hatte er zwar keinen Hunger, aber er flitzte durch die Wohnung und spielte mit der Eisenbahn, die er zu Weihnachten geschenkt bekommen und mit seinem Vater erst einmal im Wohnzimmer aufgebaut hatte. Später sollten die Gleise irgendwie in seinem chaotischen Zimmer Platz finden.
Von der Couch aus konnte Edith Schultheis den ovalen Schienenkreis mit dem Bahnwärterhäuschen, den Ampeln und Weichenkreuzen und den Bäumen und Häusern drum herum gut sehen. Der Zug mit der schwarz-roten Lokomotive und den vier Waggons stand auf offener Strecke. Weiter war er nicht mehr gekommen. Der Lokführer war verschwunden, ohne Vorwarnung, praktisch während der Fahrt. Er hätte, dachte sie, gar nicht verschwinden dürfen; er hätte sofort zurückkommen und die Fahrgäste sicher ans Ziel bringen müssen, wie am Sonntag. Und er war ja auch nicht gleich verschwunden. Er hatte sich nur zum Abendessen an den Tisch gesetzt und hinterher vergessen, dass er eigentlich noch weiterspielen wollte. Vor lauter Müdigkeit war er, nachdem er ein Viertel Schnitzel und einen Löffel Möhren und einen Löffel Erbsen gegessen hatte, ins Bad gewankt und anschließend ins Bett gefallen. Und dann hatte sie zu ihm gesagt, wenn er morgen früh nicht fit wäre, müsste er nicht zur Schule gehen.
»Dann bleibst du daheim und schläfst dich gesund«, hatte Edith Schultheis gesagt.
Aber um sieben Uhr stand er auf und ging zur Schule. Er freute sich auf seine Freunde. Er hatte sie ein ganzes Wochenende lang nicht gesehen. Sein Schulweg dauerte ungefähr zehn Minuten. Von der Ainmillerstraße links in die Wilhelmstraße und über die Hohenzollern- und Kaiserstraße und schon war er da. Den Weg kannte er seit drei Jahren.
Hauptkommissar Thon und Hauptkommissarin Bauschmidt fragten sie hundertmal nach dem Weg
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