M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
und sie zog die Hand weg, wärmte sie an ihrem Bauch.
»Steh auf.«
Er fing wieder an, hin und her zu gehen, während sie, die schmerzende Hand am Bauch, sich hinkniete, so unauffällig wie möglich ein- und ausatmete und aufstand. Ihr war schwindlig. Sie hätte das alles verhindern müssen, dachte sie. Wieso war der alte Mann in die Kneipe gekommen? Zu welchem Zweck? Unter allen Umständen musste sie verhindern, dass die Detektei Liebergesell eine Verbindung zwischen dem Überfall und ihr herstellte. Das wäre fürchterlich, dann wäre alles verloren, und sie würde Siegfried vermutlich nie wiedersehen.
»Die Jungs sind schon auf dem Weg zu den Kameraden im Osten«, sagte er, als spräche er zu jemand anderem, nicht zu ihr, die auf dem Stuhl saß und ihm zuhörte und heimlich auf ihre Hand pustete. »Mario weiß, was zu tun ist, und sonst war niemand da. Außer dir.«
Im nächsten Moment hatte er den zweiten Stuhl genommen und ihn vor ihr auf den Boden geknallt. Er saß da, breitbeinig, sein schweißnasses Gesicht zwei Handbreit von ihr entfernt. »Du hast mit dem Alten geredet, er hat dich angequatscht, er hat sich verlaufen. Hast du das verstanden? Er ist zufällig reingekommen, hat dich gesehen und gedacht, er kann dir was ausgeben. War’s so? Ja?« Sein Arm zuckte, und sie dachte, er würde sie an der Kehle packen. Aber er sah sie nur an aus seinen wässrigen Augen, die ihr einmal so gefallen hatten.
»Ja«, sagte sie, obwohl sie seine Frage vergessen hatte.
»Und dann ist er wieder gegangen, Ende Gelände. Was draußen passiert ist, weiß kein Mensch. Alles gespeichert?«
»Er hat mich angesprochen«, wiederholte sie abwesend. Die Schmerzen zogen aus ihrer Hand in den Arm bis in ihren Kopf. Sie hatte plötzlich hämmernde Kopfschmerzen, wie von selbst kippte ihr Kopf von links nach rechts und wieder zurück.
»Was ist los? Spinnst du?« Mit beiden Händen packte er ihren Kopf und hielt ihn fest. »Bau keinen Scheiß, Mädel, ich kann mir das nicht leisten, das weißt du doch.« Er verschob ihren Kopf bei jedem Wort, das folgte: »Das-weißt-du-doch-das-weißt-du-doch.«
»Ja.« Ihre Stimme versickerte in ihrem Rachen.
»Was?«
»Ja. Ja.« Er ließ sie los. Sie riss den Mund auf und schnaufte, als wäre sie fast ertrunken. »Okay. Aber wieso …«
»Was?« Er sah sich um. Sein Blick blieb an einer Rotweinflasche auf dem Rollwagen hängen, auf dem Bücher und Zeitschriften lagen.
»Wieso bist du denn das Risiko eingegangen, Karl? Der Alte wär doch sowieso wieder verschwunden.«
Er schüttelte heftig den Kopf und klatschte sich mehrmals auf die Wangen. »Ich brauch was zu trinken. Hast du noch was anderes als diesen Kanackenwein?« Mit einem Ruck stand er auf und steckte die Hände in die Taschen seiner Bomberjacke. »Hab genug gesoffen für heut. Also, vielleicht bist du heut leicht blöde im Kopf, so was passiert, zu viele falsche Sachen gedacht. Zum letzten Mal: Ich wollt wissen, wer der Alte ist und wieso er bei uns rumspioniert. Und das hab ich erfahren, und jetzt ziehen wir die Sache bis zum Ende durch. Es war meine Entscheidung, ich hab die Verantwortung und damit Schluss.«
Er war sich nicht sicher, ob Schluss war. Vermutlich hatte er überreagiert, und der Alte wäre tatsächlich von selber verschwunden. Er hatte so lange nichts unternommen, keine Aktion durchgeführt, keinen Befehl erteilt. Das Versteckspiel zehrte ihn aus. Er machte gerade die schwerste Phase im Untergrund durch, das wusste er. Er hatte genügend Zeit, darüber nachzudenken, vierundzwanzig Stunden am Tag, und er tat nichts anderes. Auch seine Rückkehr nach München hatte seine Stimmung nicht verbessert. Er hockte in dieser Wohnung im Norden, die Geiger für ihn angemietet hatte, aber er hockte im Abseits. Nichts passierte.
Er war nicht undankbar, Geiger hatte alles eingefädelt und ihn aus der Gefahrenzone im Osten ins sichere Bayern gelotst. München, behauptete Geiger, wäre die sicherste Stadt für einen wie ihn. Hier suchte ihn niemand. Ohne Geiger säße er immer noch in diesem Rattenloch im Niemandsland. Geiger hatte alles im Griff.
Die Bullen und der Verfassungsschutz waren nicht sein Problem, die suchten ihn in anderen Bundesländern, wenn sie überhaupt nach ihm suchten. Diese Leute waren in ihren eigenen Mechanismen gefangen, das gefiel ihm. Sie hatten keine Ahnung von den wahren Vorgängen in der Szene, wie Geiger ihm immer wieder versicherte.
Was ihn fertig machte, war die Tatenlosigkeit. Das
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