M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
aus, als wäre er ihnen unbegreiflich. Auf diesem Weg war Ingmar am Montagmittag verschwunden, am helllichten Tag, unter lauter Passanten. Die Schule in der Wilhelmstraße hatte er verlassen, das stand fest. Danach aber hatte ihn niemand mehr gesehen. Sie mussten alle erblindet sein, ganz Schwabing auf einen Schlag. Seither war ein Jahr vergangen, und der Zug stand immer noch auf offener Strecke, und niemand stieg aus oder ein. Ingmar hatte sich eine Laterne gewünscht, direkt am Bahnhof, »damit die Leut in der Nacht nicht stolpern und aufs Gleis fallen und überfahren werden, weißt schon, Mama«.
Ja, dachte seine Mutter, wir müssen eine Laterne aufstellen, damit du wieder nach Hause findest, mein Schatz.
Niemand hätte von alldem erfahren dürfen. Nicht einmal die Polizei hätte Robert Schultheis einschalten dürfen, aber er tat es sofort, nachdem er den Brief gelesen und seiner Frau gezeigt hatte. Lydia, die Chefsekretärin im Immobilienbüro Schultheis & Partner, hatte das Kuvert mit der übrigen Post am Dienstagmorgen aus dem Briefkasten im Erdgeschoss genommen und dann sortiert. Das Büro lag im dritten Stock, die Briefkästen befanden sich im Hausflur. Der Absender musste also das Haus betreten haben, wie die Polizei folgerte, und zwar bereits am Montag, dem Tag der Entführung. Niemand hatte jemanden dabei beobachtet, wie er einen Brief bei Schultheis einwarf. Hauptkommissar Thon und seine Kollegen vernahmen den Briefträger, was Edith Schultheis seltsam fand. Sie begriff nicht, was der Mann für die Post konnte, die er austrug. Falls der Brief überhaupt geschickt worden war, er hatte zwar eine Briefmarke, die war aber nicht abgestempelt worden. Vielleicht ein Trick, um eine falsche Spur zu legen. Überhaupt erschienen Edith die Aktionen der Polizei eigenartig. Aber dann dachte sie, dass ihr das Verhalten der Fahnder womöglich nur deshalb unbegreiflich vorkam, weil ihr seit Montag alles unbegreiflich vorkam, jede Stunde, jeder Satz, jeder Blick.
Ständig fuhren Streifenwagen durch die Ainmillerstraße. In der nahen Schule führten uniformierte Polizisten Befragungen durch. Das sei normal, sagte Thon. Edith nickte und dachte an den Brief, in dem stand, dass die Polizei rausgehalten werden sollte, sonst würde »das Kind« sterben. Das Kind war Ingmar. Draußen fuhren Streifenwagen vorbei, und in der Schule liefen Polizisten herum. Das ergab in Ediths Augen keinen Sinn.
Ediths Blick war verschwommen, das war ihr klar, sie war nicht ganz zurechnungsfähig. Doch den Wortlaut des Briefes brachte sie in jedem Moment zusammen. »Ich hab das Kind. 1 Million Euro, zwei Müllsäcke, Eschenlohe Rastplatz, Freitag. Polizei raushalten, sonst stirbt das Kind.« Gewöhnlicher Brief, sagte die Polizei, DIN C6, ohne Fenster, weiß, nassklebend. Ach, hatte Edith ausgestoßen, als Thon ihr diese Details nannte, als wären sie eine Leuchtspur im Dunkeln. Im Labor des Landeskriminalamtes wurden keine verwertbaren DNA-Spuren gefunden, keine Speichelreste, keine Haarschuppen und dergleichen. In Ediths Ohren klangen die Ausführungen des Kommissars zum Thema Spurentechnik interessant. Drei Minuten später hatte sie alles vergessen.
Sonst stirbt das Kind. Das hatte sie nicht vergessen, auch nicht den Rest. Zwei Müllsäcke. Freitag. Polizei raushalten. Als Robert ihr den Brief zeigte, zitterte seine Hand. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Robert war ein selbstbewusster Mann mit starker Ausstrahlung, die er in seinem Beruf als Makler perfekt einzusetzen wusste. Das hatte Edith früher oft genug miterlebt, wenn sie als Scheininteressentin und Mitbieterin bei einem schwierigen Objekt auftrat – mit etwas schlechtem Gewissen, aber auch fasziniert vom Verhandlungsgeschick und dem Charme ihres künftigen Ehemannes. Nach der Heirat lehnte sie solche Spiele ab, und Robert fügte sich widerstrebend.
Am Dienstagmorgen – vor sechs Tagen, und es kam ihr vor wie ein Jahr – nahm sie ihm den Brief aus der zitternden Hand und las ihn und ließ ihn fallen. Das wurde ihr erst später bewusst, als sie gegenüber dem Kommissar die Vorgänge wiederholen, ihre Empfindungen beschreiben sollte, wozu, das verstand sie nicht. Sie erinnerte sich, wie sie ihren Mann, der etwas in der erhobenen Hand hielt, durch den Flur auf sie zukommen sah und wie er, als er vor ihr stand, schwer atmend und mit einem Ausdruck im Gesicht, der ihr an ihm vollkommen unbekannt war, seine Hand ausstreckte und wie sie das Papier knistern hörte. Da bemerkte sie
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