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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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wie er sie beobachtete, verstummte sie sofort, und er senkte, wie schuldbewusst, den Kopf.
    Manchmal vermisste er sie so sehr, dass sein Herzschlag aussetzte. Wenn sein Herz dann weiterschlug, fragte er sich, wozu.
    »Darf ich mich hinsetzen?«
    Er hatte sie nicht kommen sehen. Er hatte auf den kahlen Holztisch gestarrt. »Das ist ja eine Überraschung, Sie hier zu sehen«, sagte Mia Bischof und setzte sich zu ihm, mit dem Rücken zum Lokal. Auf ihren Pullover hatte sie eine weiße »28« gestickt. Kreutzer betrachtete die Zahl, und die Erinnerung, die sie bei ihm weckte, beschämte ihn. Die 28 gehörte fast dreißig Jahre lang zum Repertoire der Lottozahlen, die seine Frau jede Woche tippte. Immer vier Kästchen und in jedem Kästchen immer eine 28.
    »Sie sehen traurig aus«, sagte Mia.
    »Nein.« Er bildete sich ein, dass sie gut roch. »Ich war früher oft mit meiner Frau hier im Viertel. Sie ist hier aufgewachsen vor … sehr lang her. Heute ist ihr erster Todestag.«
    »Mein Beileid.«
    Es war ihr fünfter Todestag, aber für Kreutzer würde es bis zum Ende der Zeit nur einen ersten geben.
    »Sie sollten gehen«, sagte Mia. Ihre Stimme klang gedämpft, wenn er sich nicht täuschte. »Gleich kommen Gäste, die haben eine Feier, dann wird’s laut. Gehen Sie bitte. Zum Bier lade ich Sie ein.«
    »Was sind das für Gäste?«, fragte er.
    »Laute Gäste. Haben Sie schon etwas wegen Herrn Denning herausgefunden?«
    »Wenig.« Kreutzer sah an ihr vorbei zum Tresen. Die beiden jüngeren Männer mit den Lederjacken verabschiedeten sich mit Handschlag von ihrem Freund und einem Nicken von Mario und verließen mit schnellen Schritten die Kneipe.
    »Sie müssen ihn finden«, sagte Mia und sah Kreutzer mit einer Eindringlichkeit an, die er nicht zu deuten wusste.
    »Ja.« Er wollte noch etwas sagen, aber Mia stand auf und hielt ihm die Hand hin.
    »Danke«, sagte sie. »Auf Wiedersehen.«
    Also stand er auch auf. Er drückte ihr die Hand, die feucht von Schweiß war, und empfand eine tiefe Verstörung. Was wollte die Frau ihm zu verstehen geben? Dass er verschwinden sollte, und zwar schleunigst? Dass etwas bevorstand, das er nicht miterleben sollte? Dass er nicht hierhergehörte? Mia stand immer noch am Tisch, reglos, wie der Gast am Tresen, der beide Arme auf die Theke gelegt hatte und den Kopf gesenkt hielt. Im bleichen Schimmer der Lampen sahen die Gesichter der Frau und des Wirtes steinern aus, dachte Kreutzer. Dann hallte eine Zeile des Schlagers, der schon seit zwei Minuten lief, in seinem Kopf wider. »… solang die Erde sich dreht und unser Stern am Himmel steht …« Es war ihm unangenehm, dass er zuhörte und sich nicht auf alles andere konzentrierte – auf die Frau, den stummen Gast am Tresen.
    »Auf Wiedersehen«, sagte Mia noch einmal.
    Nichts passierte. Dennoch kam ihm die Situation wie eine Bedrohung vor, dem Schlager und dem scheinbar gleichgültigen Dastehen der drei anderen Anwesenden zum Trotz. Zitterig pfriemelte er am Reißverschluss seines beigen Anoraks, warf Mia einen verwirrten Blick zu und ging zur Tür. Er wollte sich noch einmal umdrehen, ließ es sein und trat in die kalte Luft hinaus.
    »Ehemaliges Parteimitglied?«, sagte der Gast am Tresen, ohne sich zu bewegen. Er trug einen schwarzen halblangen Mantel voller Fusseln. »Was erzählst du denn für dummes Zeug?«
    Als hätte sie ihn nicht gehört, ging Mia zu den Toiletten auf dem Flur, der zum Nebenraum führte, und knallte die Tür zu.
    »Wir werden’s bald erfahren, was der Alte hier will. Gib mir einen Obstler, Mario, und dann mach die beschissene Weibermusik aus.«
    »Reg dich nicht auf, Karl«, sagte der Wirt.
    »Leg die alten Onkelz ein, die machen Freude. Die erinnern mich an die gute alte Zeit.«

    So eine Musik hatte Kreutzer noch nie gehört. Er hörte sie auch nicht richtig, in seinem Kopf toste eine Brandung, die seine Gedanken unter sich begrub. Er blutete. Jemand drückte seinen Kopf auf die Rückbank des Autos, in das sie ihn gezerrt hatten. Anfang und Ende des Überfalls hatte er kaum wahrgenommen. Jemand hatte ihm von hinten in die Seite geschlagen, und er war zu Boden gesackt. Noch ein Schlag auf den Kopf, und er bekam keine Luft mehr. Er wurde gepackt und in ein Auto geschoben. Da war keine Stimme, nur die laute scheppernde Musik. Dann hörte er ein Summen. Darüber wunderte er sich eine Sekunde lang.

9
    D ie Kirchenglocken läuteten im Fernsehen. Die Sonne schien. Durch die offene Balkontür drang ein Zwitschern

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