M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
sie oft, wurde die Welt regiert. Wenn ihr Vater hinter seinem Schreibtisch thronte, hörte jedermann auf sein Kommando. Und wenn er in einem Anfall von Zorn oder Missvergnügen mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, verstummte das ganze Haus. Und das war auch richtig so, hatte Mia gedacht.
»Ich habe vielleicht einen Fehler gemacht, Vater«, sagte sie.
Er sagte nichts, wartete reglos ab, wie es seiner Art entsprach. Sie hatte keine Erwiderung erwartet. »Ich habe Karl in meine Wohnung gelassen.« Sie sah ihn an, sein Blick verriet nichts. »Er ist auf einmal im Bergstüberl aufgetaucht, niemand hat damit gerechnet. Du hast ihm befohlen, nicht dahin zu gehen.«
»Ich habe ihn darum gebeten«, sagte Lothar Geiger. »Und er hat mir versichert, sich daran zu halten. Was wollte er in dem Lokal?«
»Das weiß ich nicht.« Sie nestelte am obersten Knopf ihrer weißen Bluse, ihre wachsende Nervosität irritierte sie. Sie hatte sich nur aussprechen wollen, und nun war sie kurz davor, die Kontrolle über ihre Empfindungen und Gedanken zu verlieren. Sie senkte ihre Stimme, zumindest versuchte sie es. »Sitzt er da unangemeldet am Tresen, und ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Er tut so, als wäre er zu Hause. Und dann habe ich ihn auch noch mit zu mir genommen.«
»Warum?«
Das Wort und der schroffe Tonfall erschreckten sie. »Ich wollte das nicht. Wollte das nicht. Er hat sich nicht abweisen lassen. Und das nach allem, was passiert war.«
»Was war passiert?«
»Ein alter Mann ist ins Stüberl gekommen, er treibt sich schon länger im Viertel herum, und Karl dachte, er ist ein Polizeispitzel.«
»Was hat Karl unternommen?«
»Er hat Heiner und Jockel hinter dem Mann hergeschickt, damit sie ihn ausfragen.«
»Ist das gelungen?«
»Ich weiß es nicht.« Sie dachte nicht darüber nach, wie es dem Detektiv Kreutzer nach dem Überfall ging. Sie konzentrierte sich darauf, keinen Fehler zu machen, gegenüber ihrem Vater keine Silbe von dem zu verraten, was sie getan hatte. Niemand durfte von ihrem Auftrag an die Detektei erfahren. Das würde ihr niemand in der Gruppe verzeihen und sie wahrscheinlich aus ihren Funktionen katapultieren. Andere würden sie als Verräterin betrachten, als dumme Kuh, die aus Sentimentalität Schwäche zeigte und ihre gemeinsame Mission gefährdete. Dabei war sie doch nie gefühlsduselig, nie eine von den verheulten Mädchen gewesen, die den Schulhof vollrotzten, wenn ein Junge sie verlassen oder blöde angemacht hatte. Sie schlug zurück, mit Worten oder Fäusten, und die Sache war erledigt.
Wegen Siegfried hatte sie noch keine Träne vergossen. Aber sie hatte Angst um ihn. Diese Angst war ein Fluch.
Von Karl ging dieser Fluch aus, und sie litt seit dem Tag darunter, an dem ihr Vater ihr bei einem Essen in Starnberg mitgeteilt hatte, dass er Karl eine Wohnung besorgt habe, und zwar im Münchner Norden, in dem schmucklosen Hochhaus am Hasenbergl, wo er mehrere Wohnungen besaß. In diesem Moment wusste Mia, dass etwas geschehen würde, weil Karl zu einem paranoiden Menschen geworden war, der jedem Kind misstraute und jeden Menschen, den er nicht kannte, für einen Polizeispitzel hielt. Seit fast zehn Jahren lebte Karl im Untergrund. Niemand, auch nicht ihr Vater, zweifelte daran, dass Karl, wäre der Anschlag auf die Synagoge damals geglückt, heute ein Held wäre und nicht, mehr oder weniger auf sich allein gestellt, wie ein Aussätziger durch Deutschland vagabundieren müsste. Zum Glück, wie Lothar Geiger vor den Kameraden immer wieder betonte, legten sich die Ermittlungsbehörden der herrschenden Polit-Kaste gegenseitig lahm, so dass Karl von dieser Seite wenig zu befürchten habe.
Was immer Siegfried zu seinen Gunsten vorgebracht hätte, dachte Mia wieder und wieder, Karl hätte ihm misstraut. Und genau das hatte er auch getan. Sie hatte ihm von Siegfried erzählt, nicht aufdringlich und kein Wort von dem Verhältnis, das sie mit dem Taxifahrer hatte. Sie sagte nur, wie sehr sie ihn schätze und dass er zuverlässig Aufträge erfülle, wenn es darum gehe, Kameraden von einem Ort zum anderen zu bringen oder Waren und Propagandamaterial zu transportieren. Auf Siegfried war hundertprozentig Verlass, hatte sie gesagt und Karls Blick gesehen und alles verstanden. Dass Siegfried von einer Stunde zur anderen ohne eine Erklärung abhaute, ergab nicht den geringsten Sinn. Außer, man kannte Karl Jost. Er hatte etwas mit Siegfrieds Verschwinden zu schaffen, davon war Mia überzeugt, auch
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