M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
Leonhard und sie sich zum ersten Mal an der Isar begegnet, und er hatte ihr und ihrer Freundin ein Bier spendiert. Überall lagen junge Leute mit Kassettenrekordern, aus denen Rockmusik schallte, im Gras, rauchten, tranken und küssten sich. Leonhard war ein eher schüchterner Typ, aber Inge nicht. Ihr munteres Wesen beflügelte seinen Mut, und er berührte sie unter all den Leuten ringsum nicht nur am Rücken. Sie genierte sich nicht, er aber zwischendurch schon.
Nach einiger Zeit kam Inge allein zum Flaucher, ohne Barbara. Und als sie sich, wie andere um sie herum, zum ersten Mal nackt auszog, bekam sein Gesicht die Farbe der Kieselsteine am Ufer. Ohne Badehose dazusitzen fiel ihm schwer, und als Inge sich vor ihn hockte, damit die anderen nichts sehen konnten, wurde ihm fast schwindlig vor Aufregung.
Noch Jahre, Jahrzehnte später erzählte er davon, und sie lächelte jedes Mal und strich ihm über die Wange, wie sie es von Anfang an getan hatte.
Inge konnte etwas, das vollkommen einfach und selbstverständlich war und ihm selbst nie gelang: sanftmütig streicheln. Sein Gesicht, seine Arme, seinen Bauch, alles – nur eine Geste, eine beinahe flüchtige Berührung, und er geriet in einen Zustand von Wehrlosigkeit, die für ihn das Maß aller Hingabe war.
Kinder bekamen sie nicht, was für beide kein Grund für schwere Gedanken war. Inges Eltern fragten anfangs oft danach. Sie waren gläubig, gingen regelmäßig in den Gottesdienst und wünschten sich Enkel, während Leonhards Eltern das Thema immer nur am Rand ihrer Treffen anschnitten und mehr aus Höflichkeit als aus Besorgnis. In den Alben mit den Ledereinbänden sammelten sich Fotos aus der Chronik ihrer Ehe. Schnappschüsse aus der neuen Wohnung in der Ainmillerstraße, direkt neben dem Schreibwarengeschäft, das Leonhard schon ein Jahr vor seiner Hochzeit übernehmen musste, nachdem sein Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte und arbeitsunfähig geworden war.
Der Laden entwickelte sich zu Leonhards Passion. Er lernte alles über Stifte und Papier, Schulbücher, Zeichengeräte und andere Utensilien für den Büro- und Unterrichtsbedarf. Eine Woche nach der Hochzeit, am zehnten Mai, bezogen sie ihre erste und letzte gemeinsame Wohnung, und wiederum eine Woche später fing Inge im Laden an und blieb dort an Leonhards Seite bis einen Tag vor ihrer Einlieferung ins Krankenhaus, aus dem sie nicht mehr lebend zurückkehrte.
Sechsunddreißig Jahre lang war Inge im Geschäft gewesen und beliebt bei allen. Bei seinen Besuchen im Schwabinger Krankenhaus sprachen sie wieder vom Tag ihrer Hochzeit. In jenem Jahr wurde Erich Honecker Nachfolger von Walter Ulbricht, Inge verehrte Bundeskanzler Willy Brandt und schimpfte über den amerikanischen Präsidenten Nixon, den sie für einen Verbrecher hielt. Inge interessierte sich mehr für Politik als Leonhard, aber sie machten keine großen Gespräche daraus, sie lasen Zeitungen und kommentierten das eine oder andere. Als junger Mann, vor seiner Ehe, war Leonhard einmal Mitglied in einer Partei gewesen, mehr eine Spielart von Neugier als alles andere und eine für ihn im Nachhinein grässliche Vorstellung.
Vier Tage vor ihrem Tod fiel Inge ein, welches Lied sie im Jahr ihrer Hochzeit am meisten mochte, »A Song of Joy« von einem Sänger, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnerte. Zu Hause, in der Nacht, blätterte Leonhard die verstaubte Schallplattensammlung im Keller durch und fand die Single. Der Sänger hieß Miguel Rios. Welches Leonhards Lieblingslied in jenem Jahr gewesen war, wusste er nicht mehr. Doch Inge behauptete mit ihrer verbliebenen Stimme und allem Rest an Atem, dass es »Ruby Tuesday« von der schönen Melanie war. Das glaubte er nicht. Er glaubte es einfach nicht. Er glaubte es immer noch nicht.
Sie schlugen auf ihn ein, und das Lied tauchte in seinem Kopf auf wie eine verirrte Erinnerung. Nicht zu glauben. Das Lied der schönen Melanie. Er hatte es nie wieder gehört, in seinem ganzen Leben.
Von den Ausführungen des Bürgermeisters über die Proteste gegen neue Luxusprojekte im Zentrum der Stadt bekam sie nur wenig mit. Ihre Gedanken waren woanders, und was der Kommunalpolitiker zu sagen hatte, kannte sie schon. Eigentlich wäre eine Kollegin von ihr für die Pressekonferenz im Rathaus eingeteilt gewesen, aber diese musste bei einer Recherche für den Polizeibericht aushelfen, so dass der Chef vom Dienst Mia Bischof mit dem Artikel beauftragt hatte.
Mehr als sechzig Zeilen brauchte sie
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