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M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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nicht zu schreiben, was nicht länger als eine halbe Stunde dauerte. Anschließend redigierte sie drei Artikel von freien Mitarbeitern, besprach mit ihrem Kollegen die tägliche Lokalspitze, die sie heute ausnahmsweise nicht schreiben musste, und verabschiedete sich um sechzehn Uhr aus der Redaktion.
    Sie behauptete, an ihrer Reportage über ein Jugendzentrum in Pasing, in dem angeblich rechte Hooligans ein und aus gingen, weiterarbeiten zu müssen. Stattdessen ging sie zum Hauptbahnhof, wo sie auf die nächste S6 in Richtung Tutzing wartete. Ihren Besuch hatte sie nicht angekündigt, weil sie von ihrem Diensttelefon aus grundsätzlich keine privaten Gespräche führte, und extra in eine Telefonzelle zu gehen, wie bei anderen Gelegenheiten, wollte sie nicht. Falls ihr Vater nicht da war, würde sie sofort zurückfahren und tatsächlich ihre Reportage fortsetzen.
    »Ich freu mich, dass du kommst«, sagte Lothar Geiger und gab seiner Tochter die Hand. Sie umarmten sich selten, das war in ihrer Familie nicht üblich. Er bat sie in sein Büro im dritten Stock, von dessen Fenster aus Mia, wie schon als Kind, über den Starnberger See blickte.
    Eine Minute stand sie still da, besetzt von Erinnerungen an ihre Kindheit, die sie sofort verscheuchte, als eine Angestellte hereinkam und ein Tablett mit Kaffee und Butterkeksen brachte. Mia setzte sich in den alten, mit grünem Samt bezogenen Sessel vor dem Schreibtisch. An der Wand hinter ihrem Vater hing das dunkle Gemälde ihres Großvaters in Militäruniform. Joseph Geiger war Oberst bei der Wehrmacht und ein enger Vertrauter von Generalfeldmarschall Keitel und wie dieser nach der Kapitulation im Kriegsgefangenenlager Bad Mondorf inhaftiert gewesen und schließlich vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg angeklagt worden. Wie den Oberkommandierenden der Wehrmacht verurteilten die Richter auch Joseph Geiger zum Tod durch den Strang. Seit Mia zurückdenken konnte, galt ihr Großvater als Held und willkürliches Opfer der sogenannten Siegermächte.
    Geigers Sohn Lothar war ein schlanker, sportlicher, grauhaariger Mann von dreiundsiebzig Jahren, den viele seiner Gäste auf Anfang sechzig schätzten. Das »Hofhotel Geiger am See« in Starnberg befand sich seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Familienbesitz und galt unter Urlaubern trotz des neu ausgebauten, umfangreichen Wellnessbereichs und der Erweiterung um fünfzig Zimmer als familiär und bezahlbar angesichts der herausragenden Lage in einem der beliebtesten Landkreise Deutschlands.
    Regelmäßige Tagungen vor allem im Winter, wenn kaum Tourismus stattfand, brachten dem Hotel gute Einnahmen. Bei seinen Mitarbeitern war Geiger ebenso beliebt wie gefürchtet. Wichtige Entscheidungen traf er ausschließlich allein, zeigte sich aber bei Erfolgen und öffentlicher Anerkennung durchaus spendabel und vermittelte nach außen den Eindruck eines zusammengeschweißten Teams.
    Kritik an bestimmten Gästen, die zwischen November und Februar regelmäßig im Hotel abstiegen und bei ihren Vorträgen und Seminaren Parolen brüllten und die Zimmermädchen schikanierten, verbat Geiger sich mit harschen Worten und verweigerte jedes Gespräch darüber.
    Wem die Leute nicht passten, der konnte seine Papiere abholen. Das passierte im Lauf der Jahre immer wieder. Bisweilen wunderte sich ein Angestellter, warum bei Parteitagen und Versammlungen hinter verschlossenen Türen nie die Polizei einschritt.
    »Schmeckt dir der Kaffee nicht?«, fragte er. In seinem zugeknöpften grünen Janker mit den Hirschhornknöpfen saß er kerzengerade auf dem antiken Holzstuhl, die Hände auf die Tischplatte gestützt. Auf dem schweren Mahagonitisch reihten sich Akten und Bücher Kante an Kante, Füllfederhalter steckten in Lederetuis, am Rand stand eine antike Standuhr mit versilbertem Fuß.
    Der Raum mit dem mächtigen und mit Intarsien verzierten Bauernschrank, der Seemannstruhe, den deckenhohen Regalen voller Atlanten, historischen Büchern und dicken Ordnern, der Couch in dunkelrotem Leder, über der ein weiteres nachgedunkeltes Gemälde hing, das ein Wildpferd in einer zerklüfteten Landschaft zeigte, wirkte weniger wie das Büro eines Hotelmanagers, sondern viel mehr wie die Kanzleistube eines altgedienten Anwalts, der seine Zeit damit verbrachte, in alten Unterlagen zu stöbern und die Geschichte Revue passieren zu lassen.
    In ihrer Kinderzeit empfand Mia die Atmosphäre in diesem Raum wie etwas Heiliges. Von hier aus, dachte

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