Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)

Titel: M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
gewachsen zu sein und sich wie ein Anfänger zu verhalten. Er fürchtete, wie ein Kind zu sein, dem Erwachsene Wiegenlieder ins Ohr summten und mit dem sie nach Gutdünken spielten, bis es, selig eingelullt, in den Schlaf fiel.
    Süden war zu lange Polizist gewesen, um die Regeln nicht zu kennen, nach denen auf dieser Seite so rücksichtslos gespielt wurde wie auf jener der Gesetzesbrecher.
    Und er war zu professioneller Rücksichtslosigkeit nicht fähig, weil das Rücksichtnehmen Teil seines Anwesenheitsverhaltens war. In seinem Wesen fehlte das Gen für die harten Bandagen. Er bewertete andere nicht von seiner Warte aus, sondern von deren, und dies – so hatte er längst kapiert – war angesichts der Wirklichkeit, für die er sich entschieden hatte, ein lächerliches Gebaren.
    Ebenso gut hätte er nur mit einem Lendenschurz bekleidet über den Nordpol spazieren und einen Eisbären umarmen können.
    In der trostlosen Wohnung eines aus ungeklärten Gründen verschwundenen verdeckten Ermittlers war er nur einen Schritt von einer Witzfigur entfernt. Und wenn er nur lange genug in den kleinen Spiegel im Flur schaute, würde er die Angst in seinen grünen Augen erkennen. Sie loderte wie ein Flächenbrand.
    Gott ist die Finsternis und die Liebe das Licht, das wir ihm schenken, damit er uns sehen kann. Warum ihm dieser mehr als fünfunddreißig Jahre alte Satz aus dem Abschiedsbrief seines Vaters jetzt einfiel, wusste er nicht, aber er tröstete ihn beinahe ein wenig.
    Süden riss sich aus seiner Erstarrung, machte einen Schritt von der Wand weg, rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Dann bückte er sich, hob die Zeitschrift auf und bemerkte, dass einige Seitenzahlen markiert waren. Jemand hatte die Zahlen mit einem schwarzen Stift unterstrichen, nicht fett, eher wie zufällig. Vier Zahlen, acht unterstrichene Ziffern, entdeckte Süden und notierte sie auf seinem Block. Die Zahlen kamen ihm vor wie die erste und einzige persönliche Note in dieser Wohnung.
    Noch einmal zog er sämtliche Schubladen im Schlaf- und Wohnzimmer auf, tastete die Unterseiten ab, sah hinter den Schränken nach, unter dem Sofa, ein zweites Mal in den Küchenschränken und hinter den kalten Heizkörpern. Wenn Denning irgendwo etwas versteckt hatte, musste Welthe es entdeckt und mitgenommen haben.
    Einer Fernsehillustrierten in einem Haushalt ohne Fernseher hatte Welthe offensichtlich keine Aufmerksamkeit geschenkt.

    »Was meinen Sie damit, Sie wollen telefonieren?« Rosa Weisflog stand hinter der halb geöffneten Tür, nachdem Süden eine Weile geklingelt hatte. »Ich schau grad meine Serie im Fernsehen.«
    Aus dem Nebenzimmer waren Stimmen und Musikfetzen zu hören.
    »Es dauert nur eine Minute.«
    »Wieso haben Sie kein Handy?«
    »Der Akku ist leer.«
    »Dann kommen Sie kurz rein, und ich geh wieder rüber.«
    Das schwarze Schnurtelefon stand auf einem runden Stehtischchen in der Küche, auf einem gehäkelten Untersetzer. Süden vertauschte die Zahlen, die er aus Dennings Zeitschrift abgeschrieben hatte, so oft, bis bei einer Nummer der Anrufbeantworter ansprang. »Hier ist die Isabel Schlegel, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht oder schicken Sie mir ein Fax. Tschüss und bis bald.« Süden hinterließ keine Nachricht, er wollte später noch einmal anrufen, wenn er herausgefunden hatte, wo die Frau wohnte.
    »Auf Wiedersehen, Frau Weisflog.«
    »Haben Sie da oben alles so gelassen, wie es war?«, rief sie aus dem Wohnzimmer.
    »Unbedingt.« Süden verließ die Wohnung und das Haus, stellte sich auf den asphaltierten Weg, der zwischen den Wohnblocks hindurchführte, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er dachte an seinen toten Freund Martin Heuer, der ein Spezialist im Knacken von Schlössern gewesen war und ihm als Andenken einen fabelhaft funktionierenden Dietrich hinterlassen hatte, den Martin zeitlebens Kläuschen nannte.

    Die beiden Männer vermieden es, sich anzusehen. Der eine, Lothar Geiger, stand am Fenster im vierten Stock mit dem Rücken zum Raum und fragte sich seit einiger Zeit, ob er die Sache nicht endlich zu Ende bringen sollte. Der andere, der sechsundzwanzig Jahre jüngere Karl Jost, saß auf einem Stuhl, schaute zum Fernseher, der ohne Ton lief, und rauchte. Er trug einen schwarzen Trainingsanzug und war barfuß.
    »Ist mir gleich, was du sagst, ich bleib. Ich hab hier noch was zu erledigen«, sagte Jost.
    »Du hast schon genug erledigt.« Unten auf der schmalen Straße zwischen den

Weitere Kostenlose Bücher