M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
sie atmen. »Wir haben auf der anderen Seite der Rosenheimer Straße bei der Kirche gewohnt.«
»Jetzt erinnere ich mich.«
»Sie täuschen sich.«
»Kleine Stadt, kleine Welt.«
»Sie waren damals bei der Kriminalpolizei?«
»Ja.«
»Wieso haben Sie mich nicht gleich erkannt?«
»Vielleicht habe ich Sie nicht gut genug angesehen.«
»Das ist möglich.« Sie ließ die Arme hängen, blickte zum Nebenzimmer, dessen Tür geschlossen war, und ging an Süden vorbei zur Wohnungstür. Sie legte beide Hände auf die Klinke und wandte halb den Kopf. »Wir haben also was gemeinsam in der Vergangenheit.«
»Einen Zufall«, sagte Süden.
Sie nickte und drückte die Klinke runter, zögerte aber, die Tür zu öffnen. »Der Erich hat sich jedenfalls nicht zufällig erschossen. Der hat genau gewusst, wo er hinzielt.« Sie zog die Tür auf und drehte sich zu Süden um. »Machen Sie sich nichts draus, ich hab Sie auch nicht erkannt. Das Leben ist flüchtig.«
Als Süden an ihr vorbeiging, streckte sie den Arm in die Höhe und strich ihm mit der Faust über die Wange. Die Berührung war immer noch da, als Süden die Tür von Dennings Wohnung hinter sich schloss.
Im ersten Moment dachte Süden, Welthe habe die Wohnung über Nacht ausräumen lassen. Im Flur hing ein rechteckiger, rahmenloser Spiegel neben einem roten Kleiderständer. Im Schlafzimmer standen ein hellbrauner, schmaler Kleiderschrank mit zwei Türen, eine Kommode aus Kiefernholz mit drei Schubladen und ein Doppelbett in der Farbe des Schranks, dessen Matratze mit einem blauen Spannbetttuch bezogen war. Vor dem Fenster hing eine weiße Leinengardine. Ein grauer Auslegeteppich bedeckte sowohl den Boden des Schlafzimmers als auch den des Wohnzimmers, in dem es kein Mobiliar außer einem billigen beigen Sofa gab, dazu ein rechteckiger lackierter Eichentisch, zwei grau-beige bezogene Stühle mit Armlehnen, die, obwohl es nach Südens Meinung darauf auch nicht mehr ankam, nicht zum Rest der Einrichtung passten, sowie eine Art Vitrine mit vier Schubladen und einem Glasaufbau.
Am Fenster hing die gleiche weiße Gardine wie drüben. An den Wänden keine Bilder. Keine Blumen oder Pflanzen auf dem Fensterbrett. Keine Stereoanlage, kein Fernseher.
Das Bad war klein und fensterlos, hatte aber eine Badewanne. In der schmucklosen Küche verstärkten ein rechteckiger Tisch, auf dem ein zerknittertes Fernsehmagazin lag, und zwei Klappstühle erst recht nicht den Eindruck einer Wohnung, in der ein Mensch zu Hause war. Alles schien billig zusammengekauft und kaum benutzt worden zu sein.
In den Schubladen im Schlafzimmer entdeckte Süden saubere Unterwäsche, eine Handvoll karierter Hemden, drei weiße T-Shirts, Socken und Bettbezüge. Im Schrank hingen ein brauner Anzug und ein zerknitterter Regenmantel.
In der Vitrine standen einige Gläser in unterschiedlichen Größen und in den Hängeschränken in der Küche vier Tassen, vier kleine, vier große Teller, eine hölzerne Salatschüssel, weitere Gläser, ein Topf, eine Pfanne. Der Kühlschrank war vollständig leer, auch das Eisfach. Der Strom lief noch.
Entweder, dachte Süden, hatte Denning die Wohnung vor seinem Verschwinden ausgeräumt oder vorher nie richtig eingeräumt.
Er setzte sich aufs Sofa und sank trotz seines Gewichts kaum ein. Er schaute sich um und sah nichts. Was, fragte er sich, hatte der LKA-Mann Welthe hier gesucht? Warum wusste er nichts von dem, was Denning vorhatte, obwohl dieser als verdeckter Ermittler ihm, dem V-Mann-Führer, über jeden Schritt Rechenschaft ablegen musste?
Anders als bezahlte V-Leute, die aus dem Milieu stammten, das sie im Auftrag des Verfassungsschutzes auskundschaften sollten, und die weitgehend auf sich allein gestellt und damit unberechenbar waren und ihr Handeln willkürlich bestimmen konnten, unterlagen Polizeiermittler strengen Auflagen. Bei eigenmächtigen und von außen nicht zu kontrollierenden Aktionen riskierten sie ihr Leben.
Im Grunde, das wusste Süden aus seiner Zeit bei der Kripo, besaßen V-Leute, auch wenn der Buchstabe dafür stand, nur wenig Vertrauen bei ihren Auftraggebern und oft auch bei ihren von Haus aus misstrauischen Kameraden. Im Gegensatz zu solchen Informanten lebten verdeckte Ermittler in zwei Welten mit demselben Rechtssystem, das sie zu befolgen hatten, wenn auch in der einen Welt unter erweitertem Rahmen. So durften sie Zeugen befragen, ohne sie vorab zu belehren, in fremde Wohnungen ohne ausdrückliche Genehmigung eindringen und andere
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