M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
sie nur an.
Durch das Fenster des Einzelzimmers fiel graues Licht. Die gelben Rosen, die Edith mitgebracht hatte, standen in einer Vase auf dem leeren Tisch.
Süden dachte, dass Kreutzer vermutlich über Monate hinweg keine feste Nahrung zu sich nehmen konnte. Und weil er nicht wusste, was er tun sollte, deutete er unbeholfen zur Tür, um Kreutzer zu signalisieren, dass er das Zimmer verlassen wolle. Warum er das tat und warum er überhaupt hinausgehen wollte, wusste er nicht. Vielleicht erschütterte ihn der Anblick seines Freundes zu sehr; vielleicht gab er sich immer noch die Schuld an den Ereignissen und ertrug deshalb seine Hilflosigkeit nicht; vielleicht war für Süden im Moment jeder Ort ein Verlies.
»Geh ruhig«, sagte Edith Liebergesell.
Er wollte etwas erwidern.
Sie nahm seine Hand, aber er ließ sie los. Er wollte nicht, dass Kreutzer dachte, sie hätten ein Verhältnis. Oder dass er mitbekam, wie ratlos sie waren. Oder dass er sich ausgeschlossen fühlte.
Solche Sachen reimte Süden sich zusammen und kam sich unbrauchbar vor. Gern hätte er Kreutzers Gesicht berührt oder wenigstens seine Schulter. Er traute sich nicht. Also nickte er ihm zu und ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. »Wir finden die Verbrecher«, sagte er, weil er sicher war, Kreutzer würde ihn hören. »Und wir holen dich so bald wie möglich hier raus.« In seinen Ohren klangen die Sätze wie geliehen, und er hätte sie ihm auch direkt am Bett sagen können.
Tatsächlich atmete er tief durch, als er im Flur die Tür hinter sich schloss und sich an die Wand lehnte, mit hängenden Schultern und ausgelaugt, als hätte er ein Land vermessen.
Wenig später kam Edith Liebergesell aus dem Zimmer. Er berichtete ihr von seinen Begegnungen. Sie schlug vor, nach draußen zu gehen, damit sie rauchen konnte. Es hatte angefangen zu regnen, und sie blieben unter dem Vordach, eine Zeitlang schweigend, stehen. Besucher, die ihre Autos an der Straße geparkt hatten, eilten an ihnen vorbei. Nicht weit entfernt klingelten Straßenbahnen. Dann klingelte Ediths Handy. »Liebergesell.«
»Franck.«
»Herr Kommissar.« Sie sah nicht ein, ihn zu begrüßen, wenn er es auch nicht tat.
»Auf das Foto in der Zeitung hat sich ein Zeuge gemeldet. Möglicherweise hat er Herrn Kreutzer kurz vor dem Überfall gesehen. Außerdem hat jemand angerufen, der ein verdächtiges Auto an der Schule am Hasenbergl beobachtet hat. Ist Ihr Mitarbeiter inzwischen ansprechbar?«
»Nein, wir sind gerade bei ihm.«
»Wann werde ich mit ihm sprechen können?«
»In einem Monat etwa.«
»Das ist schlecht.«
»Herr Süden möchte mit Ihnen sprechen.« Er hatte ihr ein Zeichen gegeben, und sie hielt ihm das Telefon hin.
»Haben Sie veranlasst, dass unsere Telefone abgehört werden?«
Hauptkommissar Franck antwortete nicht sofort. Vorher beendete er seine Notizen. »Süden! Ich habe das nicht veranlasst, wieso denn? Sie sind zwar störrisch und wenig kooperativ, was mich angesichts des Zustands Ihres Kollegen schon etwas verwundert. Jedenfalls sind Sie und Ihre Detektei nicht wichtig genug für so eine Aktion. Das müsste Ihnen doch klar sein.«
»Offensichtlich sind wir wichtig«, sagte Süden.
»Gut. Haben Sie Neuigkeiten für mich?«
»Nein.«
»Was machen Sie den ganzen Tag?«
»Ich arbeite. Die Dinge, die ich herausfinde, sind nicht neu, sie belegen nur unsere Vermutungen.«
»Welche Vermutungen?«
»Dass der verschwundene Taxifahrer, Ihr Kollege vom LKA, in der rechten Szene tätig war und vermutlich deswegen entweder untergetaucht ist oder beseitigt wurde. Fragen Sie Ihren Kollegen Hutter.«
»Der Taxifahrer ist kein Kollege von mir.«
»Wo hat der Zeuge Herrn Kreutzer gesehen?«
»Geht Sie das was an?«
»Unbedingt«, sagte Süden.
»Bleiben Sie bei Ihren Vermissten, und wir klären die wirklich wichtigen Fälle. Auf Wiedersehen.«
Süden hatte das Telefon schon wieder zurückgegeben. »Liebergesell noch mal. Was hat der Zeuge gesehen, Herr Franck? Kann er die Täter beschreiben?«
»Bisher haben wir nur telefoniert, er kommt in einer Stunde in mein Büro. Ich wollte Sie nur informieren, und es wäre gut für uns alle, wenn Sie Süden auf den Boden der Tatsachen zurückbringen würden. Sein Verhalten nützt niemandem, am wenigsten dem Opfer.«
»Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie angerufen haben«, sagte Edith Liebergesell. »Wir unterstützen Ihre Arbeit, auch Herr Süden. Aber wir befinden uns in einer extrem angespannten Lage. Unsere
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