M: Ein Tabor Süden Roman (German Edition)
zu?«
Süden bezahlte die Rechnung. Isabel Schlegel stand so nah neben ihm wie die ganze Zeit nicht, und er hatte nicht bemerkt, dass sie näher gerückt war. Während sie ausdruckslos zur Tür schaute, berührten sich ihre Arme. Süden steckte sein Portemonnaie ein und bewegte sich, mit dem Rücken zum Lokal, nicht von der Stelle. Er glaubte nicht, dass sie ihm noch etwas sagen wollte. Er wusste nicht, was sie mit der Berührung bezweckte und warum sie nicht schon aufgebrochen war. Die meisten Gäste waren inzwischen gegangen, aus einem Lautsprecher klang leise klassische Musik.
Nach einer Weile sagte Isabel: »Danke für die Einladung. Drücken Sie uns die Daumen für den Wettbewerb.« Als Süden sich zur Tür umdrehte, war sie im verschwommenen Licht der Straße schon nicht mehr zu sehen.
In der »Wickelkiste«, einem Treffpunkt für Mütter mit Babys und Kleinkindern, erfuhr Süden, dass Mia Bischof vor fünf Jahren eine der Gründerinnen war. Seither engagiere sie sich, »wann immer sie eine Minute Zeit für uns hat«. Eine Erzieherin sagte, ohne Mia könnten viele Aktionen nicht durchgeführt werden – Ausflüge im Sommer oder Geburtstagsfeiern für die Kleinen, wenn die Eltern überfordert seien oder aus Arbeitsgründen keine Zeit hätten.
Regelmäßig leihe Mia über ihre Kontakte bei der Zeitung preisgünstig einen Kleinbus aus und fahre mit Müttern und Kindern in die Natur, an den Chiemsee oder den Starnberger See, »wo sie ausgelassen herumtollen, Spiele machen, Märchen vorlesen und bis zur Erschöpfung die Seele baumeln lassen«. Auf die Frage, ob Mia Bischof schon einmal durch politische Äußerungen aufgefallen sei, erhielt Süden eine klare Antwort. »Auf keinen Fall. Bei uns bleibt jede Politik draußen. Wir sind ein offener, überparteilicher und konfessionsloser Verein. Es geht ums Wohl unserer Kleinsten und das ihrer Mütter, die oft alleinerziehend sind und nicht viel Geld zur Verfügung haben.«
Im Eingangsbereich betrachtete Süden fünf Schaukästen mit Unmengen von Fotos. Zu sehen waren spielende und lachende Kinder mit ihren Müttern, Kinder auf Weihnachtsfeiern, beim Ostereier-Suchen, an einem See, im Garten, beim Basteln von Drachen und Holzfiguren. Laut der Bildunterschriften entstanden einige der Aufnahmen vor drei Jahren, andere vor zwei Monaten.
»Keine dunkelhäutigen, asiatischen oder türkischen Kinder auf den Fotos«, sagte Süden zu der Erzieherin.
»Zurzeit haben wir keine. Das ergibt sich so. Die meisten Kontakte bei uns laufen über Mia. Sie ist gut vernetzt und bringt uns immer wieder neue Familien, worüber wir natürlich sehr dankbar sind, auch aus finanziellen Gründen, das kann ich leider nicht verhehlen.«
Von einem Siegfried Denning hatte die Erzieherin noch nie etwas gehört.
»Endlich meldest du dich«, sagte Edith Liebergesell, als Süden sie übers Handy anrief. Er war in der Jagdstraße in Neuhausen, gegenüber der »Krabbelkiste«.
»Wir müssen uns treffen«, sagte er.
»Ja, und zwar gleich und im Krankenhaus. Leo ist aus dem Koma aufgewacht.«
20
N achdem seine Werte sich stabilisiert hatten, beendeten die Ärzte die Langzeit-Narkose früher als geplant. Dr. Nils Reber erklärte, Leonhard Kreutzer erhalte weiterhin Schmerz- und Beruhigungsmittel und sei kaum in der Lage, sich zu artikulieren. Dies hänge nicht mit der Funktion seines Gehirns zusammen, sondern sei vor allem auf seinen Kieferbruch und die massiven Verletzungen aufgrund der Schläge zurückzuführen. Andererseits habe der Körper des Achtundsechzigjährigen die enorme Stressbelastung durch den Überfall inzwischen einigermaßen überwunden, so dass sein Herz fast wieder normal schlage, was erstaunlich sei. Insgesamt aber werde der Regenerationsprozess mindestens ein halbes Jahr dauern, eventuell auch mehr als ein Jahr. Nach der Einschätzung des Arztes habe der Patient trotz der diversen Knochenbrüche und schweren Quetschungen noch »relatives Glück« gehabt. »Der Angriff hätte für Ihren Kollegen auch tödlich ausgehen können«, sagte Dr. Reber zu Edith Liebergesell.
Zwar versicherte der Mediziner, Kreutzer würde seine Besucher erkennen, aber die Detektivin und Süden bemerkten kaum eine Reaktion. Wenn Kreutzer mit einer minimalen Bewegung den fast vollständig bandagierten Kopf drehte und sie ansah, blieben seine Augen starr. Sein Blick schien keinen Anteil an der Außenwelt zu nehmen. Edith Liebergesell beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte seinen Namen. Er schaute
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