Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
arbeitete fieberhaft. Sie musste Larry in ein Gespräch verwickeln, um Zeit zu gewinnen. Er machte zwar einen tumben und schwerfälligen Eindruck, Mabel beging aber nicht den Fehler, ihn zu unterschätzen. Gerade geistig zurückgebliebene Menschen waren oft unberechenbar, und ihre Trägheit konnte schnell in grenzenlose Wut umschlagen. Unwillkürlich dachte Mabel an einen geistig behinderten Patienten, der vor über zwanzig Jahren in das Hospital eingeliefert worden war, in dem sie gearbeitet hatte. Er war bei einer Schlägerei verletzt worden und zuerst völlig ruhig, beinahe schon apathisch gewesen. Dann, von einer Sekunde auf die andere, hatte er eine Kollegin Mabels, die lediglich über eine seiner wenig intelligenten Bemerkungen gelacht hatte, angegriffen und ihr die Nadel einer Spritze an die Halsschlagader gehalten. Glücklicherweise war die Sache damals gut ausgegangen, die Krankenschwester hatte nur einen leichten Schock erlitten und der Patient war in die Psychiatrie überstellt worden. Aufgrund dieser Erfahrung blieb Mabel vorsichtig und würde sich nicht darauf verlassen, Larry mit Gesprächen zu überlisten.
„Seit wann seid ihr denn ein Paar?“, fragte sie und rutschte dabei unmerklich Stück für Stück in Richtung Tür, obwohl sie nicht glaubte, dass ihr die Flucht gelingen könnte. Sie musste es aber zumindest versuchen.
„Schon ein paar Wochen“, antwortete er. „Angela ging mit mir aus, ins Kino und auch in den Pub. Ich durfte sie küssen, das hat sie vorher nie gewollt. Ich sagte, ich will sie heiraten, aber sie sagte, es geht nicht, weil der andere Mann sie nie gehen lässt. Konnte doch nicht zulassen, dass er mir meinen Engel wegnimmt. Jetzt ist er aber weg und kommt nie wieder.“
Mabel sah immer klarer, und die Erkenntnis, mit dem Mörder von Mahmoud El-Said in einem Raum eingesperrt zu sein, diente nicht unbedingt ihrer Beruhigung. Sie war über die Ausmaße des Plans, den Michelle und Angela geschmiedet hatten, erschrocken. Wie konnte man nur derart kaltblütig sein? Michelle hatte Mahmoud während ihres Urlaubs kennen und vielleicht sogar lieben gelernt. Da ein Staatsbürger Ägyptens in diesen unruhigen Zeiten, die das Land gerade durchlitt, nicht ohne Weiteres ausreisen konnte, hatte Angela offenbar einen Antrag auf Ausreise gestellt, mit der Begründung, Mahmoud heiraten zu wollen, was sie dann auch getan hatte, denn sie trug offiziell seinen Nachnamen. So konnte sich El-Said legal in England aufhalten und wurde von Angela in der Jagdhütte versteckt, wo er und Michelle sich regelmäßig trafen. Eines jedoch verstand Mabel nicht: Warum musste Michelle sterben? Angela war für ihre Dienste sicher gut bezahlt worden und der Schwindel wäre wohl so schnell nicht entdeckt worden. Wenn Angela der Vereinbarung überdrüssig geworden wäre, weil sie wirklich jemand anderen hätte heiraten wollen – wobei Mabel Larry aus dem Kreis der Anwärter ausschloss –, hätte sie sich doch einfach wieder scheiden lassen können. Es hätte ihr gleichgültig sein können, was mit El-Said geschieht. Mabel hatte keine Ahnung, wie lange man verheiratet sein musste, um auch nach einer Scheidung in England bleiben zu können, denn bisher hatte sie sich nie mit einem solchen Fall befassen müssen. Wenn Angela aber wirklich hinter allem steckte, dann wäre es der jungen Frau doch egal gewesen, wenn El-Said ausgewiesen worden wäre.
Inzwischen hatte Mabel die Tür erreicht. Sie lag jetzt außerhalb des Lichtkegels der Taschenlampe. Langsam hob sie ihre Hand und drückte vorsichtig auf die Klinke. Wie erwartet war die Tür verschlossen, die Klinke machte jedoch ein unangenehm knirschendes Geräusch. Mit einem Satz war Larry auf den Beinen und neben ihr. Er umklammerte Mabels Schultern mit einem Arm und drückte ihr die Spitze des Messers an den Hals. Der Schmerz nahm ihr beinahe die Sinne, und sie hatte Todesangst.
„Nicht weggehen, sonst war alles umsonst!“, kreischte er. „Angela sagt, Sie würden allen von dem anderen Mann erzählen, und dann kommen sie und sperren mich wieder ein. Will aber nicht mehr eingesperrt werden, nie mehr! Will mit Angela weggehen. Ganz weit weg, wo uns niemand findet.“
„Das werdet ihr auch“, keuchte Mabel. „Nimm das Messer weg! Bitte, Larry, es wird alles nur noch schlimmer, wenn du mich tötest. Angela würde das sicher nicht wollen.“
Der Druck wurde schwächer, und Mabel spürte, wie ein wenig Blut an ihrem Hals entlanglief.
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