Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
entdeckte Mabel, und an den Rhododendronbüschen zeigten sich bereits die ersten Knospen. Die Umgebung ließ einen fast vergessen, dass man sich in Nordeuropa und nicht am Mittelmeer befand, so mild war hier das Klima und so üppig die Vegetation.
Plötzlich raschelte es direkt neben Mabel im Gebüsch, und sie machte erschrocken einen Schritt zur Seite. Aus der Hecke kam aber nur ein Pfau, der – den Kopf stolz erhoben und seine langen Schwanzfedern über den Boden hinter sich herziehend – an Mabel vorbeispazierte, ohne sich an ihrer Anwesenheit zu stören. Mabel legte eine Hand auf ihr laut klopfendes Herz. Dass sie über ein harmloses Tier derart erschrocken war, lag nur daran, dass sie genau wusste, sie tat wieder einmal etwas, das sie nichts anging. Sie befand sich auf einem Grundstück, auf dem sie nichts zu suchen hatte, und war auf dem besten Weg, ihre Nase mal wieder in Angelegenheiten zu stecken, die vielleicht wirklich völlig harmlos waren. Mabel konnte sich des Gefühls aber nicht erwehren, dass hinter Michelles Selbstmord mehr steckte, als Chefinspektor Warden herausfinden würde. Auch wenn tatsächlich niemand anderer seine Hände bei ihrem Tod im Spiel gehabt hatte – es interessierte Mabel brennend, warum die junge Frau keinen anderen Ausweg gesehen hatte.
Der Weg machte eine Biegung, und plötzlich lag das Haus in seiner ganzen Pracht vor ihr. Allerby House war ein dreistöckiger, geradliniger Bau ohne Schnörkel und Verzierungen. Die im palladianischen Stil erbaute Fassade war gepflegt, die Scheiben der großen, wie mit einem Lineal angeordneten Fenster blitzten in der Sonne, und das Portal wurde von zwei verzierten Säulen flankiert. Unwillkürlich zog Mabel einen Vergleich zwischen Allerby House und dem verwinkelteren Higher Barton, das älter war und dadurch die Baustile mehrerer Jahrhunderte in sich vereinte. Allerby wirkte kompakter und auf den ersten Blick auch gemütlicher.
Unentschlossen blieb Mabel stehen und überlegte. Das Haus hatte sie jetzt gesehen, doch was sollte sie nun tun? Da kam ihr die Idee, sie könnte wegen der Geburtstagsfeier vorsprechen, auch wenn das so kurz nach Michelles Tod etwas pietätlos war. Immerhin hatten Emma Penrose und sie bei der Organisation bereits einige Ausgaben gehabt. Beim Caterer war eine Anzahlung zu leisten gewesen, und auch die Kapellen hatten einen Teil des vereinbarten Honorars beansprucht, da sie so kurzfristig nun keine anderen Auftritte mehr bekommen konnten. Takt hin oder her – im Augenblick war es für sie die einzige Möglichkeit, mit jemandem von Allerby House ins Gespräch zu kommen. Entschlossen straffte Mabel die Schultern, ging auf das Haus zu, schritt die drei Stufen zur Tür hinauf und betätigte die Klingel. Sie musste nicht lange warten, da wurde die Tür von einer attraktiven jungen Frau geöffnet. Ihre pechschwarzen Haare trug sie in einem Pagenschnitt, der ihr etwas Französisches gab.
„Sie wünschen?“, fragte sie zurückhaltend, aber nicht unfreundlich.
„Verzeihen Sie bitte die Störung“, begann Mabel. „Ich komme wegen …“
„O ja, natürlich!“ Die Frau musterte sie von oben bis unten und wirkte erleichtert. „Ich habe Sie allerdings nicht schon heute erwartet, denn die Agentur sagte, es wäre vor Sonntag niemand frei. Umso besser, dass Sie jetzt doch früher kommen konnten.“ Sie trat zur Seite und machte eine einladende Handbewegung. „Kommen Sie herein!“
Mabel ließ sich ihre Verblüffung nicht anmerken. Vergessen war die Nachfrage wegen der ausstehenden Kosten. Offenbar wurde sie mit jemandem verwechselt, und sie war viel zu gespannt zu erfahren, für wen man sie hielt, als dass sie das Missverständnis sofort ausgeräumt hätte. So konnte sie zudem das Haus ohne lange Erklärungen betreten. Sie folgte der Frau in eine rechteckige Halle, die von einem überdimensionalen Kronleuchter dominiert wurde. Die Wände waren mit Porträts wohl schon längst verstorbener Familienangehöriger geschmückt, und an den Seiten standen kleine, zierliche Tische und Sesselchen im Chippendale-Stil.
„Lady Jane musste gestern leider übers Wochenende verreisen“, plauderte die Frau unbeschwert weiter. „Sie ließ ihren Bruder nur ungern allein, konnte die Verabredung aber nicht absagen, dazu ist ihre Position in dem Komitee zu wichtig. Aber was rede ich, das interessiert Sie sicher nicht. Ich bin froh, dass Sie heute schon hier sind, denn allein schaffe ich die
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