Mabel Clarence 03 - Schatten ueber Allerby
waren. Am liebsten hätte Mabel auf dem Absatz kehrtgemacht und den Laden verlassen. Die Metzgerei war jedoch die einzige im Ort und die Waren ausgezeichnet. Mabel wollte nicht das abgepackte Fleisch aus dem Supermarkt kaufen, denn da wusste man nicht, wo es herkam und wie lange es schon in den Kühlregalen lagerte. Also presste sie die Lippen zusammen, wartete, bis sie an der Reihe war, und gab dann ihre Bestellung auf. Glücklicherweise hatte Mrs Roberts beschlossen, das Thema Michelle Carter-Jones nicht weiter zu erörtern, und plauderte mit Mabel unverbindlich über das Wetter.
Später machte sich Mabel Gedanken über das Gehörte. Selbst wenn es stimmte und Michelle ihren Mann aus Berechnung geheiratet und einen Liebhaber gehabt hatte, ergab das Ganze immer noch keinen Sinn. Das waren schließlich keine Gründe, sich das Leben zu nehmen.
Obwohl sie allein im Wagen saß, schüttelte Mabel den Kopf und sagte laut: „Wäre Lord Carter-Jones gestorben, dann könnte man vermuten, dass vielleicht nicht alles mit rechten Dingen zuging, besonders wenn Michelle die Alleinerbin gewesen wäre. Warum jedoch sollte sie sich umbringen?“ Je mehr Mabel grübelte, desto entschlossener war sie, so viel wie möglich über die Menschen und die Verhältnisse in Allerby House herauszufinden.
Am folgenden Tag, als der Frühling sich erneut meldete und die Menschen mit Sonne und milden Temperaturen verwöhnte, entschloss sich Mabel spontan zu einem Ausflug in das ehemalige Fischerdorf Fowey, das längst nicht so bekannt war wie seine populären Nachbarn Polperro und Looe und weniger häufig von Touristen aufgesucht wurde. Nun ja, wenn sie ehrlich war, dann hoffte sie, einen kurzen Blick auf Allerby House werfen zu können. Danach wollte sie in Fowey den Lunch einnehmen. In der Fore Street befand sich ein hervorragendes Fischrestaurant, in das Victor sie zu ihrem Geburtstag im Februar eingeladen hatte. Bei Sam’s on the Beach hatte sie schon lange wieder einmal essen wollen.
„Mach dir nichts vor!“, wies Mabel sich selbst laut zurecht. Der Ausflug nach Fowey war nur vorgeschoben, tatsächlich interessierte es sie brennend, die Hintergründe von Michelles angeblichem Selbstmord zu ergründen, denn Mabel glaubte einfach nicht, dass die junge Frau ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt haben sollte.
Ihre Erkältung war inzwischen abgeklungen, und sie fühlte sich wieder völlig gesund. Wie knapp zwei Wochen zuvor Michelles Chauffeur folgte sie der A 390, durchquerte Lostwithiel und bog eine knappe Meile hinter dem Ortsende nach links in Richtung Fowey ab. Die B 3269 war eng und gewunden und an beiden Seiten von hohen Bäumen gesäumt, deren Äste sich über der Straße berührten. So wirkte sie wie ein großer, grüner Tunnel, weil durch die milden Winter im Westen Englands das Laub kaum verwelkte. Da Allerby House der Öffentlichkeit nicht zugänglich war, gab es keine Ausschilderung. Mabel hatte aber in dem Buch gelesen, dass direkt hinter der Siedlung Castle Dore aus der Eisenzeit, deren Reste heute nur noch ein geübtes Auge erkennen konnte, ein Fahrweg zum Fluss Fowey führte, an dessen Ufer Allerby lag.
Die erste Abzweigung, die Mabel nahm, endete in einer Sackgasse, und sie hatte Mühe, ihren kleinen Rover auf dem schmalen Weg, der links und rechts von meterhohen Hecken begrenzt war, zu wenden. Die Kratzer, die die Zweige der Hecke dabei an den Wagentüren hinterließen, störten Mabel nicht. An so etwas hatte sie sich längst gewöhnt. In Cornwall fuhr man normalerweise keine großen, blankpolierten Autos – die Fahrzeuge mussten in erster Linie für die schmalen Straßen geeignet und man selbst durfte nicht penibel sein, wenn der eine oder andere kleine Schaden am Lack entstand.
Mit der nächsten Abzweigung hatte Mabel Glück. Der kurvenreiche Weg endete nach etwa achthundert Yards vor einem Schild, auf dem in großen roten Buchstaben der Hinweis Privatbesitz – kein öffentlicher Weg, einschließlich Wanderer prangte. Von hier aus war das Herrenhaus jedoch nicht zu sehen. Ordnungsgemäß parkte Mabel in einer Ausweichbucht und stieg aus. Sie wusste, dass sie hier nichts zu suchen hatte, und würde einiges erklären müssen, wenn sie jemandem begegnete. Ihre Neugierde war aber stärker, deswegen ignorierte sie das Schild und folgte dem Weg, der sich unter mächtigen alten Eichen und Buchen in Serpentinen zum Fluss hinunterschlängelte. Zwischen den Bäumen wucherte mannshoher Farn, auch Riesenrhabarber
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