Macabros 013: Mandragora - Herrin der Angst
Aber sie
kann immer nur das eine oder das andere zeigen. Das bedeutet,
daß das, was wir sehen, ihrer augenblicklichen Stimmung
entspricht. Wenn der Mond voll ist, kann er keine Sichel zeigen. So
sehe ich Mandragora. Im Moment haben wir nichts zu fürchten, sie
zeigt sich von ihrer besten Seite. Aber das kann sich ändern,
sobald ihre Stimmung umschlägt und sie ihr zweites Gesicht
zeigt. Bis dahin müssen wir von hier weg sein.«
Es hörte sich ganz vernünftig an.
Er zog sie mit sich. Leichtfüßig folgte sie ihm
nach.
Sie liefen quer durch die blütenübersäten
Wiesen.
Ein stiller Hain, in dem gedämpftes Tageslicht herrschte,
schloß sich an. Die Sicherheit, mit der ihr Begleiter sich
durch diese fremde Welt bewegte und zielstrebig einen bestimmten
Punkt ansteuerte, irritierte sie, und wieder meldete sich ihr
Mißtrauen.
War dies wirklich – Bernd?
Sie konnte nichts an ihm feststellen, was nicht mit dem Mann, der
schon so lange ihr Freund war, übereinstimmte.
»Bernd«, fragte sie unvermittelt.
»Ja?«
»Woher weißt du das alles?«
»Ich hatte Zeit, mich damit zu beschäftigen. Das habe
ich doch schon gesagt.«
»Wie lange bin ich schon hier, Bernd?«
»Seit zehn Tage, Eri.«
Seit zehn Tagen?
»Und seit dieser Zeit sitze ich, das heißt, sitzt mein
Körper in dem Raum, in dem ich den Versuch gestartet
habe?«
»Ja.«
»Aber dann muß man mich doch längst vermißt
haben?! Vater wird die Polizei verständigt haben
und…«
»Dein Vater weiß Bescheid. Ich habe ihn sofort
eingeweiht. Niemand weiß und ahnt etwas.«
Sie gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Aber warum
rennen wir davon? Wir laufen in Wirklichkeit doch nur im Kreis herum,
ohne daß uns dies bewußt wird und…«
»Es gibt einen Punkt, den Mandragora nicht unter Kontrolle
hat. Einen Tempel. Dahin müssen wir, koste es, was es wolle. Du
hast selbst gesagt, daß ein Fluch auf Mandragora lastet. Das
heißt, es gibt eine Kontrolle über sie. Mandragora ist ein
Geistesgeschöpf. Sie lebt ein eigenes, für uns
unvorstellbares Leben. Ihre Existenz ist rätselhaft und
geheimnisvoll, aber nicht unmöglich, wie die Umstände
beweisen. Ich blicke selbst nicht dahinter, aber ich glaube, vieles
erkannt zu haben.«
»Wie bist du dahintergekommen? Soviel wußte ich ja
selbst nicht einmal, also kannst du es weder durch meine
Tonbänder noch durch meine Niederschriften wissen.«
»Du stellst zu viele Fragen«, erwiderte er
verärgert, ohne sich umzudrehen. Er lief weiter, und sie folgte
ihm. »Ich kann sie dir nicht beantworten, selbst wenn ich
wollte. Du gefährdest uns. Reicht es dir nicht, daß ich da
bin und daß ich dir helfen kann?«
Es klang traurig. Sie schalt sich im stillen eine Närrin,
weil sie ständig wieder davon anfing.
Mandragora hatte es doch nicht nötig, ihr noch eine Falle zu
stellen. Erika Paller befand sich in ihrer Gewalt, also konnte sie
sich das Spiel mit einem falschen Bernd sparen.
Die Baumkronen bildeten ein dichtes Blätterdach. Der Weg
führte hinter eine mannshohe Strauchreihe. Dort lag der Tempel.
Drei Meter hohe Blumen umstanden den sanft ansteigenden Weg, der
genau in das Innere des Tempels führte.
Als halbdurchsichtige Kuppel spannte sich ein Gewölbe
über ihnen. Geheimnisvolles Glühen im Dämmer zog sie
an.
»Was ist das?« wisperte Erika Paller erregt.
»Der einzig mögliche Ausgang«, flüsterte ihr
Begleiter. »Jetzt kann nicht mehr viel passieren. Wir haben
Mandragora überlistet. Sie ist nicht aus ihrem Schlaf erwacht.
Sie hätte durch ihre hypnotische Kraft den Tempel in einen
Felsklotz verwandeln oder für uns unsichtbar machen können.
Wir hätten ihn dann nie gefunden. Aber sie hat ihre Chance
verpaßt. Nun kann nichts mehr passieren. Dort vorn, das Licht
– dorthin müssen wir!«
Er rannte darauf los, hielt noch immer ihre Hand umfaßt.
Erika Paller fühlte, wie Zweifel und Mißtrauen
stärker wurden und wie ihr angst wurde bei dem Gedanken,
daß dies alles nicht wahr sein könnte.
Sie hatte sich viele Jahre mit dem Problem einer Astralreise
beschäftigt und war zu einem Erfolg gekommen. Bernd tauchte auf,
wurde Zeuge und konnte den Vorgang schon nachahmen. Mit etwas
Geschick konnte aufgrund ihrer geleisteten Vorarbeit nun jeder
Mandragora einen Besuch abstatten.
Das alles sah sie ein.
Aber daß Bernd mehr wissen konnte… zum Beispiel der
Tempel. Davon hatte sie nicht die geringste Ahnung gehabt.
»Komm!« Er lief weiter, auch als sie stehenblieb und in
den glühenden
Weitere Kostenlose Bücher