Macabros 033: Flucht in den Geistersumpf
wir
einschliefen. Ich habe daran gedacht, wie es wohl sein würde,
wenn plötzlich eines dieser Moorwesen den Sumpf verließe
und auf uns zukäme«, fuhr Carminia unbeirrt fort. »Und
da geschah es – aus den Schlammassen wühlte sich eines
dieser Wesen und kam auf uns zu. Da habe ich die Wahrheit
erkannt!«
Mit brennenden Augen starrte die Halbfranzösin in den
Sumpf.
»Verschwindet!« stieß sie hervor, und ihr Gesicht
war starr wie eine Maske. »Er darf nicht ertrinken. Er ist ein
Mensch!«
Sie taumelte, und Carminia Brado mußte sie stützen.
Der Sumpf glättete sich.
Die Wesen verschwanden, und aus dem Sumpf stieg ein Körper
empor. Zuerst der Kopf, dann die Schultern. Zitternd klammerte sich
der Fremde an den Stamm.
Die beiden Frauen beobachteten ihn, wie er sich mühsam in die
Höhe zog, wie er Zentimeter für Zentimeter näherkam
und am Ende seiner Kraft selbst wie ein Moorgespenst aussah.
Und sie wurden Zeugen einer weiteren Merkwürdigkeit, die
Carminia Brados Beobachtungen und Überlegungen
ergänzten.
Aus dem Nichts heraus bildete sich ein neuer, reich verzweigter
Stamm, der dem Gefährdeten die Möglichkeit gab, sich daran
zu klammern und den Weg zum Moorrand fortzusetzen, ohne im Sumpf zu
versinken.
Und als der Fremde so nahe war, daß sie nach ihm greifen
konnten, waren sie ihm behilflich, zogen ihn auf den festen
Untergrund und wischten dem Erschöpften den zahnen Schlamm von
Gesicht und Körper.
»Gedanken eines kranken Hirns«, murmelte Lorette Massieu
unverhofft, und ein wildes Glühen irrlichterte in ihren Augen.
»Ich bin wahnsinnig, Carminia!« Sie schlug die Hände
vors Gesicht.
»Hier kann man es werden. Deine Gedanken waren besonders
stark und intensiv«, sprach die Brasilianerin beruhigend auf sie
ein, während sie weiterhin mechanisch den Schlamm vom
Körper des Fremden strich. »Geistige Kräfte werden
umgeformt in etwas Materielles. Es ist ein außerordentliches
Phänomen. Deine Angst, die du empfunden hast, hat Form und
Gestalt angenommen. In deinem Unterbewußtsein hast du dir
vorgestellt, wie es wäre, wenn der Sumpf mit schrecklichen Wesen
bevölkert wäre. Und da waren sie bevölkert!
Die Tatsache, daß Geist sich in Materie verwandelt,
daß Wunschträume Fleisch und Blut werden, ist nicht
weniger merkwürdig als die, daß man sich telepathisch mit
einem anderen Geist unterhalten kann oder daß durch geistige
Kräfte jeder beliebige Gegenstand an jeden beliebigen Ort
versetzt werden kann.«
Lorette Massieu schüttelte nur den Kopf. Es wollte ihr nicht
einleuchten, daß ihr Traum zur realen Gefahr für einen
Menschen geworden war, der über den Sumpf kam, um sich vor
dämonischen Verfolgern in Sicherheit zu bringen.
Carel Unstett bedankte sich für die Hilfe, die ihm zuteil
geworden war, und schaltete sich sofort mit müder Stimme in das
Gespräch ein, zu dem er etwas beisteuern glaubte zu müssen.
»Jetzt begreife ich auch, weshalb es plötzlich so viele
Baumstämme und Äste gab. Ich hatte mir gewünscht, eine
Möglichkeit zu haben, um über den Sumpf zu kommen. Wunsch
und Realität wurden eins. Mit diesem Fleck Erde«, murmelte
er, »hat es seine besondere Bewandtnis. Erde – wie sich das
anhört… Kann man hier überhaupt von Erde reden? Wir
sind im Pandämonium, in einem Reich der Geister. Wo es sich
befindet, vermag niemand von uns zu sagen – oder doch?«
Er blickte sie an. Der Schlamm um seine Augen herum bildete eine
dicke Kruste. Unstett bot einen eigentümlichen Anblick. Er sah
aus, als ob sein Körper mit dieser Masse nachgebildet werden
sollte, und als müsse man nur noch abwarten, bis alles schon
angetrocknet war.
»Nein, niemand weiß es«, fuhr er fort, sich die
Frage selbst beantwortend. »Selbst die Mächte, die uns
hierher entführt haben – und davon kann ich doch ausgehen,
nicht wahr? Es ist doch kaum anzunehmen, daß Sie freiwillig
hier herüber gekommen sind?«
»Nein, das sind wir nicht«, antwortete Carminia.
Unstett nickte und setzte den begonnenen Satz fort: »Selbst
die Mächte, die uns hierher entführt haben, scheinen etwas
übersehen zu haben oder werden plötzlich mit einem Problem
konfrontiert, das sie selbst noch nicht erkannt haben. Es ist doch
ein wenig anders, als man mir angedroht hatte. Wenn ich das
berücksichtige, womit mir gedroht wurde, dann hätte ich
nicht die geringste Chance gehabt, und auch Sie wären sicher
nicht mehr am Leben. Es ist wert, über dieses Phänomen, auf
das wir hier gestoßen sind, nachzudenken.
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