Macabros 049: Die Qualligen aus der Mikrowelt
Morell und seine
zweite als Mirakel nicht mehr voneinander trennen ließ.
Er hatte festgestellt, daß er seit geraumer Zeit über
bedeutend intensivere Sinneseindrücke verfügte.
Es bedurfte nicht unbedingt seiner Umwandlung in Mirakel, um
beispielsweise schärfer hören und sehen zu können. Er
konnte manchmal Menschen und Ereignisse wahrnehmen, die sich am
anderen Ende der Stadt aufhielten oder abspielten. Manchmal auch
vernahm er Stimmen, die von Leuten stammten, die sich in vielen
Kilometern Entfernung unterhielten.
Und manchmal auch schon spürte er Gedanken, die sich intensiv
mit etwas beschäftigten.
Genau in diesem Augenblick wieder.
Die Gedanken stammten von einer Passantin, die drüben an
einer auf rot stehenden Ampel wartete und sich das Titelblatt der
letzten ›Nachtausgabe‹ ansah.
›Mein Gott, das ist ja schrecklich…‹ vernahm er die
Regungen. Nicht ganz klar, wie man eine Stimme vernahm, die einen
direkt anspricht, eher wie Worte, die aus einer weiten Ferne kommen
und von undefinierbaren Geräuschen und kratzenden und
rauschenden Lauten überlagert sind. ›Sie ist tot, auf
rätselhafte Weise ermordet… wie können nur die ganzen
blauen Flecke auf ihren Körper gekommen sein?‹
Er hatte die Erfahrung gemacht, daß er immer dann solche
Gedanken und Stimmungen empfing, wenn Menschen sich in Not befanden
oder sich mit Dingen befaßten, die in irgendeiner Weise
schließlich auch für ihn Bedeutung erhielten oder schon
hatten.
Todesgedanken und Angstgefühle aber standen an der Spitze der
Einflüsse, die er empfing.
›Francoise Value ist tot – ich kann es nicht
fassen.‹
Die Frau, die das dachte war in einem Schreibbüro angestellt,
in dem sie tagsüber englische und französische
Korrespondenz erledigte. Sie war eine große Anhängerin der
einerseits schwermütigen, andererseits lebensfrohen Chansons der
Französin gewesen.
Frank Morell fuhr zusammen. Francoise Value war auch ihm keine
Unbekannte. Er besaß alle Schallplatten von ihr, und vor sechs
Wochen war er in Cannes gewesen, um ein Konzert mitzuerleben.
Francoise Value konnte ihre Zuhörer fesseln.
Morell mußte sich im stillen eingestehen, daß es mehr
als künstlerisches Interesse gewesen war, das ihn
veranlaßte, vor sechs Wochen kurzerhand einen viertätigen
Urlaub zu nehmen und nach Cannes zu reisen. Der Charme und die
sympathische Eigenart, die von Francoise ausgingen, hatten ihn derart
fasziniert, daß er das Gefühl hatte, sich ständig in
der Nähe der Sängerin aufhalten zu müssen.
Er hatte sie von weitem beobachtet, war mal mit ihr ins
Gespräch gekommen und hatte mit ihr am letzten Abend in der Bar
im Hotel gesessen… da wurde ihm bewußt, daß
Francoise nicht so war, wie er sie sich vorgestellt hatte. Es lag
etwas in ihrem Blick, das ihn irritierte.
Francoise Value war in ihrem Leben eine andere, als sie auf der
Bühne schien. Sie war leichtsinnig, leichtfertig und schien
unfähig, echte Gefühle aufzubringen.
Ihr Charakter war verdorben, und sie war
drogenabhängig…
Er atmete tief durch und versuchte die Gedanken beiseite zu
schieben, die ihn ständig beschäftigten. Aber es gelang ihm
nicht.
Blaue Flecke an ihrem ganzen Körper… zu Tode
gedrückt, und die Polizei steht vor einem Rätsel…
Fetzenhaft ließ er die Gedanken jener fremden Frau, die
längst in der Menge der Passanten verschwunden war, vor seinem
geistigen Auge Revue passieren.
Es gab eine Parallele, die ihn seltsam anmutete und über die
er gar nicht mehr nachdenken wollte.
Das Buch der seltsamen Gesichter und Bilder des Mönchs
Claudius Johannitus Ellerbrecht ging ihm plötzlich nicht mehr
aus dem Sinn.
Die Berichte über die rätselhaften Qualligen, die der
Einsiedlermönch selbst gesehen zu haben glaubte und von denen er
Stahlstiche anfertigte, standen plötzlich lebhaft vor seinem
geistigen Auge.
Die Opfer in jenem kleinen Dorf, das angeblich von Qualligen
überfallen wurde, hatten alle blaue Flecken und Druckstellen und
waren erstickt!
Er schüttelte sich und fuhr sich über die Augen, als
hätte er geträumt.
Er erreichte den Beckergang, stellte seinen BMW ab und lief dann
zur Straße vor, um sich das letzte Exemplar der
›Nachtausgabe‹ zu holen.
Die rotunterstrichene Balkenüberschrift sprang ihm in die
Augen.
»Francoise Value ist tot!
Rätselhafter Mord beschäftigt
Sûreté!«
Auf dem Weg nach Hause las er den ausführlichen Bericht. Die
Angaben, die gemacht wurden, beschränkten sich auf den
derzeitigen Stand der
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