Macabros 049: Die Qualligen aus der Mikrowelt
wurden auch
nachts Leichen eingeliefert.
André Frelon saß am liebsten in dem kleinen Zimmer,
erledigte seine Schreibarbeiten und trank zwischendurch gern einen
schweren Rotwein. Seine roten Backen waren jedoch nicht nur allein
auf den reichlichen Alkohol zurückzuführen, sondern auch
auf den Bluthochdruck, unter dem Frelon seit Jahren litt. Und der
konnte wiederum mit dem Rotweinkonsum zusammenhängen!
Aber darum scherte sich Frelon nicht. Sein Arzt hatte ihn gewarnt,
sich nicht zu übernehmen, etwas kürzer zu treten und den
Alkoholgenuß und das Rauchen einzuschränken.
»Was Sie tun, ist permanenter Selbstmord«, hatte der
Doktor ihn wissen lassen. Aber Frelon hatte keine Angst vor dem Tod
und kümmerte sich nicht darum.
Wenn man täglich – oder wie er, nächtlich –
mit dem Tod konfrontiert wurde, dann begann man mit der Zeit, diese
Toten zu beneiden.
Frelon begrüßte seinen Kollegen, der bereits an der
Tür stand und auf die Ablösung wartete. Der Mann war fertig
angezogen und hatte seine Aktentasche unter den Arm geklemmt.
Frelon war das gewohnt. »Wieder mal in Eile heut’ abend,
wie?« Seit Jahren stellte er diese Frage.
»Wie immer, André. Wenn du heute zehn Minuten
früher hättest kommen können, wäre mir wohler
gewesen. Wir wollen heute abend ins Varieté.«
»Hättest du mich angerufen…«
Sein Kollege winkte ab. »Keine Zeit! War ziemlich viel los.
Angefangen hat’s heute morgen mit zwei Morden. Sehen
scheußlich aus, die beiden. So was hast du noch nie gesehen. Am
ganzen Körper übersät mit blauen Flecken. Die beiden
wurden totgedrückt. Scheint ’ne neue Methode zu sein,
andere ins Jenseits zu befördern. Du wirst’s schon gelesen
haben. Es handelt sich um Francoise Value. Sie und der andere –
bei ihm handelt es sich offenbar um ihren Liebhaber – hat’s
erwischt. Haben sich gegenseitig totgedrückt.«
Der Sprecher lachte breit über das ganze Gesicht. Wie Frelon,
so nahm auch er die Dinge, die eigentlich so ernst waren, stets auf
die leichte Schulter und riß makabre Witze über sie. Er
schlug dem Ankömmling auf die Schulter und sagte: »Viel
Spaß und wenig Arbeit. Wenn dir die Flasche nicht reicht, die
du mitgebracht hast, in der Ecke neben dem Kühlschrank steht
noch meine, halb angebrochen…«
»Nanu«, wunderte Frelon sich. »Wirst du
abstinent?«
»Ich brauch’ ’nen klaren Kopf. Ich geh’ mit,
Angelique aus, da muß ich fit sein. Mann, Frelon, die Zeit! Ich
muß weg! Ich spring’ noch unter die Dusche, um mir den
Verwesungsgeruch abzuspülen, und dann stürzen wir uns ins
Vergnügen. Wenn es besonders nett ist, denk’ ich mal an
dich…«
Er lachte schallend, daß es durch den kahlen Hof hallte.
Frelon sah seinem Kollegen nach, der in den bereits draußen
stehenden Wagen stieg und davonfuhr.
Dann schloß André Frelon das schwere Eisentor und
legte den Riegel vor.
Gemächlichen Schrittes durchquerte er den gepflasterten
Innenhof. Zwischen den Ritzen der holprigen Steine wuchsen Unkraut
und Moos.
Das braunrote Gebäude war mit zahlreichen kleinen
vergitterten Fenstern versehen und erinnerte hinter der hohen Mauer
an ein Gefängnis. Einige Fenster waren geklappt.
Frelon suchte sein Büro auf, stellte seine Tasche in die
Ecke, legte das Jackett ab und nahm Platz an dem alten, vergammelt
aussehenden Schreibtisch.
In der Nische neben der Fensterbank war ein kleines eisernes
Becken. Der Hahn war undicht und tropfte, und das monotone
Geräusch nahm der Franzose schon gar nicht mehr bewußt
auf.
Auf dem klapprigen, unbequemen Holzstuhl neben dem Schreibtisch
lag ein Berg zerfledderter Zeitungen. In dem »Büro«
roch es nach kaltem Rauch und starkem Kaffee.
Kurz vor dem Weggehen mußte sein Kollege sich noch eine
Tasse voll zubereitet haben. Unterteller und schmutzige Tasse standen
neben dem Telefon.
Das Fenster zum Hof war ebenfalls geklappt. Von seinem
Schreibtisch aus konnte Frelon auf die hohe Mauer und drei alte,
dicht zusammenstehende Kastanienbäume sehen, deren dunkle,
massige Stämme unmittelbar hinter dem Gemäuer begannen.
Von dort draußen konnte jemand an den knorrigen Stämmen
emporklettern. Vor jedem Gefängnishof wären diese
Bäume als Risikofaktor entfernt worden. Aber hier kam
schließlich kein Mensch her, um Leichen zu stehlen.
Frelon hatte dies jedenfalls in seiner zwanzigjährigen
Dienstzeit noch nicht erlebt. Aber irgendwann wurden Menschen in
ihrem Leben auch mit den seltsamsten und unwahrscheinlichsten
Begebenheiten
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