Macabros 114: Kaphoons Grab
fragte der
achtundzwanzigjährige Engländer halblaut. »Von wo
sprichst du zu mir?«
»Aus dem Reich der Geister.«
»Dann bist du – ein Toter?«
»Nein. Ein Dämon…«
»Donnerwetter!« Cooner konnte sich diese lässige
Bemerkung nicht verkneifen. »Gibt es so etwas denn
wirklich?«
»Wie du selbst hörst…«
Marvin Cooner lachte und schnipste sich eine neue Zigarette aus
der Schachtel. »Was man hört und sieht, muß nicht
unbedingt existieren. Ich kenne ein paar Leute, die sehen weiße
Mäuse und schwarze Käfer. Aber das sind keine Dämonen,
sondern Einbildungen, hervorgerufen durch
übermäßigen, ständigen Alkoholgenuß. Ich
schlucke zwar von Zeit zu Zeit einiges, doch meiner Meinung nach war
es bisher noch nie so schlimm, daß ich befürchten
mußte, mal Stimmen zu hören…« Er gab sich
unbeeindruckt, konnte aber die Erregung in seinem Innern nur schwer
verbergen. Und die »Stimme« war in der Lage seine wahren
Reaktionen, Stimmungen und Gefühle sogar einwandfrei zu
kontrollieren.
»Es geht nicht nur um Hören und Sehen, sondern um ganz
andere Dinge. Da hast sie selbst erlebt. Du hast heute zwei Menschen
getötet.«
»Unsinn!«
»Mißtraust du schon deinen eigenen Augen?«
»Wieso soll ich sie getötet haben? Sie haben
Herzanfälle erlitten…«
»… die du ausgelöst hast.«
»Dafür gibt es keinen Beweis!«
»Dann ist – auch meine Stimme kein Beweis für
dich?«
»Man kann sich Dinge einbilden. Vielleicht ist dieser ganze
Dialog nichts weiter als Einbildung? Daß ich glaube, etwas zu
hören, daß ich glaube, etwas zu entscheiden oder zu
beeinflussen, auch das kann Einbildung sein. Kann es nicht sein,
daß sich auf diese Weise eine Krankheit äußert?
Vielleicht verliere ich den Verstand.«
»Ich beweise dir das Gegenteil.«
»Wie?« reagierte Marvin Cooner sofort.
»Ich gehe auf deine Wünsche und Vorstellungen
ein.«
Zwischen den dichten schwarzen Brauen Cooners entstand eine steile
Falte. »Geschenke in so überreichem Maß sind immer
verdächtig«, murmelte er.
»Wer sagt, daß ich dir etwas schenken will?«
»Du erwartest also eine Gegenleistung von mir?«
»Ja…«
»Und wie sieht die aus?«
»Ich komme gleich darauf zu sprechen… Zuerst aber will
ich dir etwas zeigen. Geh’ ins Bad…«
»Was soll ich da?« fragte Cooner erstaunt.
»Du wirst gleich sehen… Tu’, was ich dir
sage!«
Cooner empfing nicht gern Befehle. Sein Gesicht nahm einen
wütenden Ausdruck an. Aber dann tat er doch das, was der
Unsichtbare von ihm verlangte.
Er ging in das winzige Badezimmer. Es enthielt eine Duschwanne,
ein kleines Waschbecken, darüber hing ein rechteckiger Spiegel,
der nicht ganz sauber war.
»Und? Was soll ich hier? Mich vielleicht im Spiegel
betrachten?«
»So etwas Ähnliches«, ließ die Stimme sich
nicht aus dem Konzept bringen. »Nimm den Spiegel
ab…«
»Warum das?«
»Du solltest weniger Fragen stellen, Cooner. Das kostet
unnötige Zeit. Und die haben wir nicht.«
»Was eilt so?«
»Spiegel abnehmen…« Die Stimme klang kälter
und unnachgiebiger. Cooner gehorchte diesmal widerspruchslos. Neugier
und Angst gleichzeitig erfüllten ihn.
Er hob den alten Spiegel vom Haken. »Und was jetzt?«
»Verkehrt herum an die Wand stellen, Cooner…«
Er tat es und fragte sich dabei im stillen, ob er noch ganz
richtig im Kopf war. Völlig unsinnige Dinge beschäftigten
ihn.
»Und jetzt blick’ in den Spiegel, Cooner.«
Der Aufgeforderte lachte leise. »Ich kann mich nicht sehen.
Dazu muß ich ihn wieder umdrehen…«
»Du sollst nicht dich darin sehen, sondern jemand
anders.«
»Wen? Ich kann niemand entdecken…«
»In deinem Herzen und deinem Kopf verbirgst du trübe
Gedanken. Es gibt Menschen, die du aus tiefstem Herzen
haßt… Du hast Feinde…«
»Die hat jeder…«
»Es gibt jemand, dem du eines nie vergessen konntest.
Nämlich, daß er dich hinausgeworfen hat…«
»Ronald Myers!« stieß er sofort hervor.
»Richtig! Und nun sieh wieder in die Rückseite des
Spiegels.«
Da wurde auch ein abgebrühter Kerl wie Cooner, der glaubte,
so schnell nicht aus der Fassung gebracht werden zu können,
zunehmend nervös.
Auf der Spiegelrückseite bewegte sich etwas. Ein Bild! Es
lebte…
Cooner sah nicht sein Spiegelbild, sondern die Rückseite
wurde zum Fenster in eine andere Wohnung, die direkt auf der anderen
Seite dieser Wand zu liegen schien.
Daß dies nicht sein konnte, wußte niemand besser als
er.
Diese Wohnung lag meilenweit vom Stadtteil Soho, wo
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