Macabros 122: Doc Shadow - Geist der Schattenwelt
benutzt.
Marika Heslany warf einen scheuen Blick zurück. Hinter ihrem
Rücken stand das dunkle Haus mit den Erkern und den hohen
Fenstern. Eines davon war beleuchtet. Die Bibliothek des Pfarrers.
Dort brannte immer Licht.
Dann richtete sich der Blick der jungen Frau wieder auf das
Grab.
Dort tat sich etwas!
Fahler Nebel waberte über den feuchten Boden und formierte
sich langsam zu einer Gestalt, die spitz nach oben zulief, sich
verbreiterte und einen nebelhaften Kopf bildete.
Der Nebel veränderte seine Farbe und wurde
rötlich-braun, dazwischen schimmerten weiße
Flächen.
Ein Geist!
»Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten«, sagte
eine vertraute, freundliche Stimme, obwohl das bärtige Antlitz,
das die Größe eines ausgewachsenen Menschen über dem
Grab eingenommen hatte, alles andere als
vertrauenseinflößend wirkte.
Wahrscheinlich hing das mit der unheimlichen Größe
zusammen, die das Gesicht hatte.
»G-r-o-ß-v-a-t-e-r?« hörte Marika Heslany
sich flüstern, und die Vergangenheit holte sie endgültig
ein.
Das war die Nacht, die sie vergessen hatte!
Sie hatte immer gewußt, daß es in ihrem Leben eine
Stunde gab, die entscheidend für ihre Entwicklung gewesen war,
an die sie sich jedoch nicht mehr erinnern konnte.
»Ich freue mich, Marika, daß du gekommen
bist…« Wie groß die Augen ihres Großvaters
waren, wie schrecklich groß der Mund, die scharfgebogene,
markante Nase! »Du bist ein gutes Mädchen…«
»Ich vermisse dich, Großvater.«
»Ich weiß. Aber das brauchst du nicht«, sagte die
Geisterscheinung, die sich nicht fürchtete, obwohl sie so
fürchterlich aussah. »Ich werde immer bei dir sein,
Marika… Auch wenn du nicht mehr in diesem Land sein wirst, um
mich besuchen zu können.«
»Aber ich werde immer hier sein, Großvater.«
»Nein, das wirst du nicht, Marika. Du wirst bald eine sehr
große Reise machen. Über einen Fluß der viel breiter
ist als der, den ich dir vor kurzem gezeigt habe.«
»Woher, Großvater, weißt du das alles?«
fragte sie, und plötzlich empfand sie Freude und
Beglückung, daß sie so mit dem Mann, den sie
vermißte, sprechen und umgehen konnte.
»Dort, wo ich jetzt bin, weiß man sehr viel… man
sieht schon Dinge, die noch gar nicht geschehen sind, sondern
geschehen werden…«
»Gute und böse Dinge?«
»Ja, Marika.«
»Wenn man das vorher weiß, kann man sich die guten
aussuchen und die bösen verhindern?«
Da lachte der Geisterkopf leise.
»Manchmal sicher, aber nicht immer.«
»Warum nicht?«
»Dir das zu erklären, ist jetzt nicht möglich, aber
eines Tages, wenn du älter bist, wirst du es bestimmt
begreifen… Dann wirst du auch verstehen, was ich dir jetzt zu
sagen habe.
Du wirst ein besonderes Leben führen, Marika… Du wirst
anders sein als andere Menschen… erst spät wirst du eine
Berufung darin erkennen, denn das, was auf dich wartet, wird nicht
immer leicht sein für dich. Durch die Begegnung mit mir bist du
gewissermaßen ›gekennzeichnet‹… du wirst diese
Nacht zwar vergessen, aber sie wird – in einer besonderen
Stunde, da ein neues Fenster sich in deiner Seele öffnet –
wiedererlebt werden. Und dann wirst du dich an meine Worte erinnern,
an diese Nacht und daran, daß du bereit sein mußt, die
Gaben, die dir aus meinem Reich zufließen, zum Wohl anderer
einzusetzen… Und das wird in manchem Fall sehr schwer sein, so
schwer, daß du glauben wirst, es nicht ertragen zu
können.
Aber, Marika… du wirst es müssen… du darfst
diejenigen, die deine Hilfe brauchen, niemals im Stich lassen…
auch dann nicht, wenn die Hilfe aus einem Bereich angefordert werden
sollte, der dir normalerweise nicht zugänglich ist.«
Das riesige Gesicht lächelte sie an.
Dann verblaßten die Umrisse der Geistererscheinung, und die
Nebel schienen sich wieder in das Grab zurückzuziehen.
Marika Heslany kam es vor, als wäre ihr durch diese Worte
eine Tür in eine andere Ebene ihres Bewußtseins
aufgestoßen worden.
Aus der Frau vor dem Grab wurde wieder ein Kind.
Es lag friedlich schlummernd auf der Erde vor dem Grabstein.
Die Nacht ging vorbei. Im Morgengrauen verließ eine einsame,
hagere Gestalt das düstere Haus am anderen Ende des
Totenackers.
Der Mann im schwarzen Anzug war der Pfarrer des kleinen Dorfes,
auf dem Weg zum Haupteingang, um ihn zu öffnen.
Die reglose, helle Gestalt auf dem Grab fiel ihm auf. Er fand die
kleine zweijährige Marika Heslany, die in der Nacht gekommen
war, um ihrem toten Großvater einen
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