Macho Man: Roman (German Edition)
verbringen. Wenn man »Spätzle 28« irgendwann mal fragt: »Haben Sie denn nicht mitgekriegt, wie Ihre Tochter sich den goldenen Schuss gesetzt hat?«, dann wird sie wahrscheinlich antworten: »Wie denn – ich war doch gerade dabei, mein Traktat über die Cremigkeit des Zwischenbelags in der zuckerfreien Schwarzwälder Kirschtorte light von Dr. Oetker zu vollenden!«
Ich schließe entnervt den Internet Explorer und versuche mich auf die Kernfrage zurückzubesinnen: Was ist das Männliche an koffeinfreiem Kaffee? Bisher hat niemand von uns eine Antwort: Lysa hat den ganzen Tag gechattet; Karl hatte die Idee, einen Superhelden zu erfinden, der nach dem Genuss von koffeinfreiem Kaffee übernatürliche Kräfte entwickelt – das wurde aber vom Chef als »albern« abgelehnt; und Ulli kann sich nicht mehr auf die Arbeit konzentrieren, seit er erfahren hat, dass koffeinfreier Kaffee das Herzinfarktrisiko erhöht. Nicht dass er koffeinfreien Kaffee trinken würde, aber der bloße Gedanke, dass es Dinge gibt, die Herzinfarkte auslösen, beunruhigt ihn.
Nach Feierabend treffe ich Aylin im Starbucks am Friesenplatz. Ich wollte eigentlich einen romantischeren Ort wählen, aber ich habe Starbucks gesagt – wahrscheinlich arbeitet Starbucks mit irgendwelchen Aliens zusammen, die Menschen im Alter zwischen 15 und 35 nachts unbemerkt Chips ins Hirn pflanzen, die einem am nächsten Tag befehlen, zu Starbucks zu gehen. Egal, Hauptsache, ich sehe Aylin. Sie sieht wieder bezaubernd aus: Jeans-Minirock, kombiniert mit einem engen roten Trägertop, dazu offene Haare, silberne Ohrringe und das schönste Lächeln der Welt. Ich bin einfach ein Glückspilz – und endlich mit Aylin allein, ohne die Familie ... Denke ich. Denn die Erfindung des drahtlosen Telefonierens war insofern Gift für unsere türkischen Mitbürger, als siejetzt ihre Familie immer dabeihaben – egal, wo sie gerade sind. Aylins Sony Ericsson wiegt vielleicht 150 Gramm – aber da drin stecken ihre Mutter, ihr Vater, ihr Bruder, acht Tanten, zehn Onkel und die fast fünfzig Cousins und Cousinen. Wenn ich überlege, wie oft ich in einem Jahr mit meiner Familie telefoniere, komme ich auf 17,2 Anrufe: Einmal im Monat bei meinen Eltern, dazu die Geburtstagsanrufe bei meinen drei Tanten und zwei Onkeln (Weihnachten schicke ich Karten). Die 0,2 ist Großtante Elfriede, die ich nur alle fünf Jahre zum runden Geburtstag anrufe.
Die Zahl 17,2 übertrifft Aylin im Starbucks an einem einzigen Abend mühelos: Von den zweieinhalb Stunden dort haben Aylin und ich vielleicht zehn Minuten für uns. Die restliche Zeit geht dafür drauf, mehr oder weniger große Familienprobleme zu lösen. Während ich von den Gesprächen mit der Mutter gar nichts verstehe, kann ich den Dialog mit Cousine Orkide zumindest teilweise mitverfolgen:
»Önce Meldehalle'ye gidiyorsun. Ausländeramt nerede soruyorsun. Orada Visum göster, sonra Verlängerung alacaksın, bir Stempel Pasaporta. Okay? Hadi tschüss!«
Darauf folgt eine fast halbstündige Handy-Orgie auf Türkisch, begleitet von großen Emotionen. Mir wird ziemlich mulmig, denn offenbar wurde Aylins Familie gerade von einer Katastrophe heimgesucht. Aylin reißt die Augen weit auf und ruft mehrfach »Allah, Allah ...«, gefolgt von herzerweichenden Seufzern, Kopfschütteln und Lauten des Bedauerns. Ich bin sicher, dass irgendjemand gestorben ist, und lege Aylin tröstend die Hand auf die Schulter. Mehrmals klopfen andere Anrufer an, die offensichtlich auch von der Tragödie gehört haben. Als in der Reihe der Kondolenzanrufe endlich eine Pause entsteht, wage ich nachzufragen, was passiert ist.
»Ach, nichts Besonderes.«
»Aber es klang so dramatisch.«
»Wirklich?«
»Ja.«
»Aber es war nichts Besonderes.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Erst war meine Mutter dran. Sie stand bei H&M in derUmkleidekabine, weil sie ein Kleid anprobiert hat, und bekam den Reißverschluss nicht mehr auf.«
»Äh, und da ruft sie dich an?«
»Ja, klar. Wieso?«
»Na ja, also wenn meine Mutter bei H&M in der Umkleidekabine stehen und ein Kleid anprobieren würde – wobei, das ist unrealistisch, denn meine Mutter trägt eigentlich nur Hosen und würde auch nie zu H&M gehen, aber angenommen, sie wäre in dieser Situation ... Dann würde sie einfach die Verkäuferin bitten, den Reißverschluss zu öffnen.«
»Genau das hab ich ihr auch geraten.«
»Und?«
»Dann war das Problem gelöst.«
»Ah. Aber ... du hast unglaublich lange telefoniert. Und es klang
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