Macht der Toten
ausgestreckt, doch in letzter Sekunde riss er sie zurück. Auf keinen Fall wollte er dem Mann zu nahe kommen. Auch nicht den anderen Pendlern. Deshalb wartete er, bis alle den Zug betreten hatten, sich auf den leeren Plätzen niederließen und ihre Kleidung mit hastigen Handbewegungen vom Schnee befreiten. Doch auch danach blieb er hinter dem Werbeschild stehen.
Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie sehr ihn der Sog der Ereignisse in den vergangenen Tagen mitgerissen und sein Handeln bestimmt hatte. Zugegeben, mehr als einmal hatte er unvernünftig auf die Geschehnisse reagiert. Aber er hatte wenigstens reagiert. Nun überlegte er angestrengt, was er als Nächstes tun sollte. Natürlich, er hatte Kommissar Sebastian Berger versprochen, ihm einen Beweis zu liefern, dass er unschuldig war. Doch wie sollte ihm das gelingen, wenn er nicht einmal wusste, wonach er suchen musste?
Erneut verdammte er seine Gabe. Was hatte sie ihm gebracht? Seinen Job war er los, die Beziehung zu seiner Freundin lag im Ungewissen. Kein Ziel vor Augen. Leere im Kopf. Leere im Leben. Genauso gut konnte er sich hier und jetzt in den Schnee hocken. Einfach einschlafen. Ob dann jemand kam und ihn rettete?
Wie er so auf dem Bahnsteig stand, hilflos, pitschnass und durchgefroren, kam er sich einsam und verlassen vor. Wenn er ehrlich war: Es war nicht nur ein Gefühl. Aber da war auch noch etwas anderes: das unbestimmte Empfinden, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte.
Piss die Wand an!
Er zog Kens Stickmütze tiefer ins Gesicht. Dann lief er über den Bahnsteig auf die S-Bahn zu. Der Boden war glatt. Die Schuhsohlen fanden nur schwerlich Halt. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Das dreistimmige Hupen signalisierte, die Zugtüren würden jetzt schließen, die Bahn abfahren. Er begann zu rennen.
»Pass doch auf!«
Ein herber Schlag traf ihn an der Schulter, wirbelte ihn einmal um die eigene Achse. Seine Schuhe entwickelten ein Eigenleben, schlitterten haltlos über das Eis. Er verlor das Gleichgewicht, bekam einen Arm zu fassen, krallte sich daran fest. Der Besitzer stieß ihn rüde von sich, wollte die Bahn erreichen. Doch Philip ließ den Jackenärmel nicht los. Er starrte den Mann mit großen Augen an, blickte durch ihn hindurch, unfähig, die Lider vor dem zu verschließen, was er sah. Weil es nicht wirklich geschah. Noch nicht.
Berlin
Die Turbinen heulten auf. Das Flugzeug beschleunigte, presste die Insassen in die Sitze mit den lilafarbenen Bezügen. Nur wenige Passagiere plauderten. Weiter vorne hielt eine Frau ihr kleines schreiendes Baby im Arm, streichelte ihm besänftigend den Kopf. Drei Reihen dahinter plapperten ein kleines Mädchen und ihr Bruder, beide vielleicht drei oder vier Jahre alt, aufgeregt auf ihre Eltern ein. Sicherlich war es ihr erster Flug. Die Stewardess, die am Eingang zur Kabine saß, lächelte nachsichtig. Die anderen Fluggäste hatten die Augen geschlossen und schliefen. Geschäftsleute. Vielflieger. Als die Maschine an Fahrt gewann, verschwamm der Schnee auf den Feldern links und rechts der Startbahn zu einem Himmelbett in weichem Weiß. Das Flugzeug neigte sich, hob von der Rollbahn ab, gewann schnell an Höhe. Nicht mehr lange, dann würden die Menschen in seinem Inneren auf eine Welt hinabblicken, die schön, rund und friedlich lag. Wie in einem Poesiealbum.
In einer der Ablagen über den Köpfen der Reisenden klapperte Handgepäck, das nicht richtig verstaut worden war. Etwas raschelte. Jemand lachte. Jemand sagte etwas in einer Sprache, die niemand verstand. Nicht einmal eine Sekunde später ging ein gewaltiger Ruck durch das Flugzeug. In der Maschine schrien Menschen auf, klammerten sich an die Sitze, an den Gurt, aneinander. Sie prallten gegen die Wände, fielen hilflos ins Leere. Verglühten sekundenschnell in einer Feuersbrunst – die Frau mit ihrem Baby, das Mädchen, ihr Bruder, die Eltern, die Stewardess und alle anderen. Bevor sie auch nur begriffen, was mit ihnen geschah.
»Lass mich endlich los!«, schrie der Mann.
Philips Finger entkrampften sich. Auch die Beine gaben unter ihm nach. Er sank auf den Bahnsteig, in den Schnee. Innerhalb weniger Sekunden durchweichte seine Cordhose, nicht zum ersten Mal an diesem Wochenende.
Sein Blick klärte sich. Zischend schloss die S-Bahn-Tür vor seinen Augen. Die Blicke der Passagiere hinter den Scheiben waren auf Philip gerichtet, auch die des Mannes, der in Winterkleidung gehüllt war, schütteres Haar, bleiches Gesicht.
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