Macht der Toten
nicht, hatte der Greis gesagt. So lange de Gussa auch darüber nachdachte, er verstand nicht, was der alte Mann damit meinte. Das Offizium hatte die Geschichte seit Jahrhunderten in seinem Sinne gelenkt. Nie war das Geheimnis der Familie Hader an die Öffentlichkeit gelangt. Natürlich war das Offizium dabei nicht immer mit den Mitteln der Nächstenliebe vorgegangen; aber das war legitim, weil es einer großen Sache diente. Wenn der Papst je davon erfuhr, würde er es verstehen. De Gussa hoffte es zumindest. Genauso wie er hoffte, dass es nie dazu kommen würde.
Doch was, wenn das Offizium diesmal versagte? Die Ziellosigkeit ihrer Diskussionen, die beinahe unverhohlenen Anfeindungen, die ihm in letzter Zeit bei ihren Treffen entgegenschlugen, sie beunruhigten de Gussa zutiefst. Auch die Geringschätzigkeit, mit der Lacie ihm immer häufiger begegnete, und die Eigenmächtigkeit, mit der er Entscheidungen traf, waren nicht dazu angetan, den Bischof zu besänftigen. Einmal mehr bangte er: Was, wenn die Ereignisse, die das Offizium fürchtete und die zu verhindern sie geschworen hatten, längst aus dem Ruder liefen?
Hilflos hockte er in seinem Stuhl, seine Gedanken kreisten um immer dieselben Fragen, ohne dass er der Lösung näher kam. Gerne hätte er ein wenig geschlafen, vielleicht hätte er mit klarem Kopf einiges leichter durchblicken können. Doch in der zurückliegenden Nacht hatte er erneut kein Auge zugemacht. Nicht nur wegen der Sorgen um den alten Mann in der Kammer tief unter dem Vatikan. Er hatte auf Nachricht von Cato gewartet, der sich auf einer Fähre befunden hatte, auf dem Rückweg von London nach Berlin. War er dort schon eingetroffen?
Bisher hatte er sich nicht gemeldet. Warum nicht? Was war los? Bevor de Gussa es nicht erfuhr, konnte er sich nicht zur Ruhe betten.
Er beruhigte sich. Cato hatte noch nie versagt. Sobald die Nachricht von ihm eintraf, konnte de Gussa den Freunden – allen voran seinem ärgsten Widersacher Boris Garnier – beweisen, wie recht er hatte. Es würde ihm eine Genugtuung sein, den Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre mundtot zu machen.
Weil er bis dahin aber nichts anderes tun konnte, als zu warten, begann er, die Akten, Hefter und Zettel zu sortieren, die in einem wirren Wust auf dem Tisch vor ihm ausgebreitet lagen. In dem Durcheinander war keine Logik zu erkennen. Egal. Seine Alltagsgeschäfte waren unwichtig. Er brauchte sie nicht für das, was wichtig war. Alles, was er für seinen Auftrag und das Offizium wissen musste, trug er im Kopf mit sich. Das war eine eiserne Regel: Nichts wurde schriftlich fixiert. Doch das Chaos vor seinen Augen war nicht wirklich dienlich, Ordnung hinter seine Schläfen zu bringen.
Als er sich bewusst wurde, dass er die Häufchen nur von einer Seite des Tisches auf die andere verteilte, anstatt sie zu sortieren, gab er es auf und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er löste das weinrote Zingulum seiner Soutane. Sein Magen fühlte sich aufgebläht an. Dabei hatte er seit gestern Mittag nichts mehr zu sich genommen. Selbst das Angebot seines persönlichen Sekretärs, kurz bevor der sich in den Feierabend verabschiedet hatte, ihm ein Glas Wasser zu holen, hatte er abgelehnt.
De Gussa schaute auf die Uhr. Armand van Loyen würde jeden Augenblick wieder zum Dienst antreten. Vermutlich würde er darauf drängen, dass de Gussa sich endlich der Unterlagen annahm, die sich auf dem Schreibtisch türmten. Aber darauf konnte de Gussa sich nicht konzentrieren.
Wenn er die Ereignisse nicht so schnell wie möglich in den Griff bekam, waren Rechnungen, Anweisungen und Dienstanordnungen so unwichtig wie der Staub, der sich auf ihnen schichtete.
Es klopfte an der Tür. Jetzt war der Bischof froh, dass sein Sekretär kam. Er würde ihn um einen starken Kaffee bitten. »Kommen Sie rein«, rief er.
Das hohe Portal öffnete sich und Pater Silvano trat ein. Mit ihm hatte der Bischof am allerwenigsten gerechnet. »Was machen Sie denn hier? Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollen…«
Die Demutsgeste, mit der Silvano seinen Oberkörper herabbog, ließ de Gussa verstummen.
»Bischof«, flüsterte Silvano. Trotzdem hallte seine Stimme durch den Raum. »Ich glaube, Sie müssen kommen.«
Auch ohne Kaffee war de Gussa nun hellwach. Er sprang auf und vergaß dabei, dass er das Zingulum eben erst gelöst hatte. Die abrupte Bewegung ließ die fransigen Enden aus den Schlaufen gleiten, der Gürtel rutschte seinen Körper hinab und wand sich wie
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