Macht der Toten
wie Kahlscheuer sich verbissen abmühte, sein Ziel zu erreichen.
Der andere lachte. »Da kommt unser gemeinsamer Freund. Jetzt wird die Zeit wirklich knapp.«
Der Hinweis war überflüssig. Philip konnte sich auch ohne Blick in die Zukunft denken, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis auch der Bundesgrenzschutz auf der Bildfläche erschien. Oder die Bombe explodierte. Oder das Inferno begann? »Verdammt«, fluchte Philip. »Sag schon, beginnt die Eiszeit jetzt?«
Der andere sagte nichts. Auch das war eine Antwort.
»Aber das ist absurd«, widersprach Philip. »Was ist mit dir? Mit mir? Der Prophezeiung? Wir haben doch die Gabe! Unsere Fähigkeiten! Ist das etwa alles umsonst?«
»Fähigkeiten? Gabe?« Der andere trat einen Schritt zurück, als scheute er sich davor, noch länger gemeinsam mit Philip an einem Ort zu verweilen. »Es ist egal, wie du es nennst. Weil es am Ende ein Fluch ist. Das ist es! Ja, verflucht, es ist umsonst.«
Philip fasste sich an die Schläfe. Die Sache wuchs ihm endgültig über den Kopf. Gerade noch hatte der andere ihm die Bedeutung hinter alldem erklärt, was ihm in den vergangenen Tagen widerfahren war. Und, piss die Wand an, es klang glaubhaft: Die Fähigkeiten waren ein Segen, mit dessen Hilfe er den Menschen, den lebenden wie den toten, helfen konnte. Er hatte es selbst wiederholt erlebt. Er blickte zum Koffer hinab. Noch vor wenigen Minuten erst habe ich dank einer Vision Menschenleben gerettet! Doch jetzt warf der andere alles über den Haufen. Nichts ergab mehr einen Sinn. Verzagt fragte er: »Was ist mit Ritz’ Mutter, der kleinen Lisa, dem Polizisten am Hermannplatz, diesem Kofferbomber…?«
Der andere sagte: »Es gab vielleicht einmal eine Zeit, wo wir mit unseren Fähigkeiten etwas hätten bewirken können. Aber…« Er dehnte die Worte, als spreche er mit einem kleinen Kind. »Diese Zeiten sind längst vorbei.«
Philip traute sich kaum, die Frage zu stellen. »Was ist passiert?«
»Das weißt du am besten. Schließlich bist du Reporter.«
Aus dem Augenwinkel sah er den Priester nahen. Philip drängte: »Sag es mir!«
Der andere wies auf den Koffer. Schlichtes braunes Leder im Schnee. Wie unschuldig. Aber mit teuflischem Inhalt. »Es ist der Tod«, sagte er, als erklärte das alles.
»Der Tod?«
»Luftverschmutzung. Umweltzerstörung. Atombomben.
Terror. Gewalt. Sinnlose Kriege. Neuer Hass. Mord. Totschlag. Vergewaltigungen. Entführungen. Muss ich noch mehr aufzählen?«
Philip schüttelte den Kopf.
»Die Saat des Todes, der Hass und die Gier, sie sind die Geißeln des 21. Jahrhunderts. Und alles wird noch schlimmer. Noch viel schlimmer.« Der andere deutete ein Achselzucken an, eine kaum sichtbare Bewegung seiner Schultern. Mit schwerer Stimme sagte er, und es schnürte Philip die Kehle zu: »Dieser Jahrhundertwinter, dieser Sturm, diese unerträgliche Kälte, sie sind ein erstes Zeichen dessen, was kommen wird. Nur ein erstes Zeichen.«
Nun, damit waren zumindest einige von Philips Fragen, die die Welt in 20 Jahren betraf, beantwortet. Mehr wollte er gar nicht hören. Aber der andere fuhr unerbittlich fort: »Aber dann, irgendwann, in hundert Jahren. Oder zweihundert. Wer weiß… Solange keiner Cuthberts Bücher gelesen hat, weiß es niemand genau. Nur eines ist sicher: Es wird geschehen.«
Philip konnte nicht glauben, was er hörte. Doch noch immer war der andere nicht am Ende angelangt: »Niemand wird es aufhalten können, auch du nicht. Oder ich. Oder dein Sohn.«
Die Worte trafen Philip wie der Hieb einer Keule. Sein Sohn. Er schnappte nach Luft. Chris.
Aber der andere nahm keine Rücksicht auf seine Gefühle, preschte weiter voran: »Die technischen Errungenschaften der Menschen haben unsere Kräfte längst überflügelt. Nur noch so alte Männer wie das Offizium glauben, sie könnten mit irgendwelchen Büchern, dem Achat oder übersinnlichen Fähigkeiten dem Todeskult irgendetwas entgegensetzen. Oder die Welt vor dem Untergang retten.«
Zaghaft fragte Philip, und er dachte dabei auch an seinen Sohn: »Und was wird jetzt aus unseren Fähigkeiten?«
Sein Gegenüber rieb sich die Augen. Mit geröteten Lidern blickte er ihn an. In den Pupillen standen Schmerzen und Trauer aus zwanzig Jahren geschrieben, mit einer solchen Intensität, dass es Philip selbst die Tränen in die Augen trieb.
»Sie machen dich verrückt«, antwortete der andere. »Ich lebe seit über zwanzig Jahren mit dieser Gabe.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Diesem
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