Macht der Toten
Fluch. Seit zwanzig Jahren halte ich mich von allen Menschen fern, keine Berührung, keine Zärtlichkeit, keine Liebe. Stattdessen diese Bilder in meinem Kopf. Immer wieder neue Visionen. Ich lebe mehr mit den Toten als unter den Lebenden. Doch was habe ich erreicht?« Sein Körper wurde von einem Krampf erfasst. Er schüttelte sich wie unter schweren Schmerzen. Als er wieder stillstand, wiederholte er: »Was habe ich erreicht?« Er schrie jetzt fast. »Nichts habe ich erreicht!« Schnaufend rang er um Atem. »Im Gegenteil, alles wird schlimmer. Die Menschen gebärden sich immer mehr wie Irre. Sie suchen förmlich den Tod. Und natürlich, sie finden ihn. Für eine Seele, die du rettest, kommen drei neue hinzu. Der Kampf ist aussichtslos. Es ist traurig. Zum Verzweifeln. Ich werde verrückt. Und auch du wirst deinen Verstand verlieren, jeden Tag ein bisschen mehr, wenn du merkst, dass du dein Leben in Einsamkeit verbringst, aber nichts, rein gar nichts bewirken kannst. Dass die Zeiten für diesen mystischen Hokuspokus vorbei sind. Armer Cuthbert. Er hat es nicht verdient. Aber das, Philip, das ist die Wahrheit.«
Philip spürte einen eisigen Schauer über seinen Rücken wandern. Er brauchte einige Sekunden, bis er sich davon erholt hatte. »Bist du deshalb gekommen? Um mir das zu sagen?«
Kahlscheuers Stimme drang an sein Ohr. »Gott sei Dank«, keuchte er. »Ich habe Sie gefunden!« Er beugte sich vor, stützte die gichtigen Hände auf die Knie. Er rang um Atem, sein Gesicht war von der Anstrengung tiefrot angelaufen. Die Haare standen ihm wirr vom Kopf ab.
»Hallo Pfarrer Kahlscheuer«, nickte der andere.
Der Priester glotzte verblüfft. »Sind wir uns schon einmal…?!« Ein zischender Laut kam über seine dünnen Lippen. Ungläubig wechselte sein Blick zwischen Philip und… »Das ist mein Bruder«, sagte Philip rasch. »Ich habe ihm von Ihnen erzählt.«
»Ihr Bruder?«, entgegnete Kahlscheuer hechelnd. Jetzt standen Zweifel in seinem rotwangigen Gesicht. Er wackelte mit dem Kopf, als könnte er so die Fata Morgana vor seinen Augen zum Verschwinden bringen. Zu Philip sagte er: »Die Sicherheitsbeamten haben mich verhört, aber…«, er wies auf seine von Eis überzogene Soutane, »… ich bin ein Priester. Es gibt nichts, was ich mir habe zuschulden kommen lassen. Also haben sie mich gehen lassen.«
»Was haben Sie denen erzählt?«
Kahlscheuers Miene wirkte gequält. »Was hätte ich denn erzählen sollen?« Sein Blick streifte den anderen. »Die Wahrheit… sofern ich sie kenne. Dass ich Ihnen begegnet bin, dass ich mitbekommen habe, dass Sie einem Attentäter auf der Spur sind. Dass ich versucht habe, Sie davon abzuhalten, ihn alleine zu finden. Ansonsten…« Seine Stimme gewann an Schärfe. »Ich weiß doch selbst nicht, was los ist.«
»Sie werden es noch erfahren«, mischte sich der andere ein.
Philip sah ihn an. Der andere nickte. Er musste es wissen. Aber trotzdem lag etwas in seiner Miene, das Philips Misstrauen schürte. Der andere verschwieg ihm noch immer etwas.
Kahlscheuer schien indes beschlossen zu haben, dass jetzt nicht der richtige Augenblick war, um lange Gespräche zu führen. »Aber nichtsdestotrotz hat man die höchste Alarmstufe ausgerufen. Man sucht Sie. Sie sind der Einzige, der den Terroristen gesehen hat. Sie müssen unbedingt zurückkehren, wenn Sie nicht wollen, dass man Sie…«
»Gleich«, sagte Philip.
»Gleich!«, stimmte der andere zu und griff nach Philips Hand.
Rom
Die Audienzhalle im Vatikan war ein Abbild der Scheußlichkeit. Sie war Ende der 1960er-Jahre gebaut worden und wirkte wie eine zu groß geratene, dafür überilluminierte Schulaula. An diesem Eindruck konnten auch der schillernd leuchtende Adventsbaum und die Krippe nichts ändern, die seit wenigen Tagen aufgebaut waren. 12.000 Sitzplätze gab es in dem gewaltigen Raum, obwohl sich nur die wenigsten Pilger überhaupt hinsetzten. Ihnen war es egal, wie es hier aussah, wie lange sie standen, wie dicht gedrängt sie sich aneinanderpressen mussten, um einen Blick auf den Heiligen Vater zu werfen.
Auch an diesem Sonntag sangen sich seit Stunden farbenfroh kostümierte Schülerinnen aus Seoul in Stimmung, Brautpaare aus Toronto, Texas und Traunstein und Mitglieder eines Tango- und Folklore-Vereins aus Buenos Aires. Dann kam er von hinten in die Halle, fasste in ausgestreckte Hände, bis er endlich vorne an seinem Podest ankam.
Im Saal herrschte atemlose Stille. Der Papst sprach. »Fratelli e
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