Macht der Toten
läge hinter den vier Buchstaben noch eine andere, größere Bedeutung verborgen. Doch sie schien das Geheimnis nicht entschlüsseln zu können. Achselzuckend verfiel sie wieder in Schweigen. Ein eigentümlicher Moment. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zum letzten Mal mit einer anderen Person so andächtig beieinandergesessen hatte – außerhalb einer Kirche.
»Das letzte Mal muss in meiner Jugend gewesen sein«, sagte er und war überrascht, als er seine eigene Stimme hörte. Eigentlich hatte es nur ein Gedanke sein sollen.
Beatrice sah ihn an. »Was war in Ihrer Jugend?«
Er rieb sich mit der Hand die Nase. Angewidert stellte er fest, dass er dabei das Blut im Gesicht verteilte. Mit der sauberen Hand versuchte er sich davon zu befreien. Als er fertig war, sagte er: »Dass ich mit einem Menschen friedlich zusammengesessen habe.«
Sie lachte auf. »Sie drohen mir, mich umzubringen. Ich schlage Ihnen den Schädel ein. Das nennen Sie friedlich?«
Er ging nicht darauf ein. Er nieste und sagte dann: »Damals war ich so alt wie Sie.«
»Aha«, machte sie.
»Mein Vater starb, von einem Moment auf den nächsten«, fuhr er fort und wunderte sich, warum er ihr das erzählte. Es passierte nicht oft, dass er seiner Erinnerung Platz zum Entfalten gab. Eigentlich war Erinnerung ein ihm unbekanntes Wort. Jetzt aber wollte er erzählen. »Natürlich starb er nicht sofort, aber damals erschien mir die Zeit zwischen dem Moment, da die Krankheit ausbrach, und jener Stunde, in der ich auf das Grab meines Vaters herabblickte, wie ein einziger Augenblick.«
»Was ist passiert?«
»Mein Vater wurde mit Magenschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte gingen von einem Blinddarmdurchbruch aus. ›Ein Routineeingriff‹, sagten die Ärzte.«
»Aber das war es nicht?«
»Zuerst sah alles danach aus. Die Operation ging schnell über die Bühne. Mein Vater wurde zwar auf einer blutbefleckten Bahre aus dem OP-Saal an mir vorbeigerollt, aber für mich war das kein Grund, in Panik auszubrechen.«
»Schließlich war es nur ein Routineeingriff.«
Hustend nickte er. Die Worte sprudelten ihm über die Lippen, als hätten sie nur darauf gewartet, endlich das Licht dieser Welt zu erblicken. »Ja. Erst als ich den Helikopter am Himmel verschwinden sah, der meinen Vater in die weiter entfernte Universitätsklinik überstellte, wurde mir klar, dass irgendetwas nicht stimmte.« Er unterbrach sich, hustete erneut. Das Kribbeln in seiner Brust nahm zu. Es würde eine richtige Grippe werden. »In der Universitätsklinik machte man ihn noch einmal auf, nur um ihn gleich darauf wieder zu verschließen. Sein Körper war ein einziger Tumor, zerfressen von Metastasen, ohne Hoffnung, ihrer noch einmal Herr zu werden. Man gab ihm Morphium, damit er die Schmerzen ertrug. Zwei Wochen später war er tot.«
»Das tut mir leid«, sagte Beatrice.
Cato warf ihr einen schnellen Blick zu, um zu sehen, ob sie das ernst meinte oder ob sie ihn verhöhnte. Immerhin hatte er vor wenigen Stunden erst ihren Freund und ihre Tante umgebracht. Mitleid war wohl das Letzte, was er von ihr erwarten durfte. Und doch lag etwas in ihren Augen, das er als Anteilnahme interpretierte.
»›Es war Gottes Wille‹, sagte meine Mutter, als ich irgendwann, viele Wochen später, mit ihr zusammensaß, so wie ich jetzt mit Ihnen hier sitze. Meine Mutter war ein sehr gläubiger Mensch. Und Gott fing auch mich in meinem Schmerz auf.«
»Haben Sie sich nicht gefragt, warum er den Tod Ihres Vaters überhaupt zugelassen hat?«
Catos Gesicht verzog sich. »Natürlich habe ich mir diese Frage gestellt. Aber…«
»… es war sein Wille«, beendete sie seinen Satz.
»So ist es«, stimmte er zu. »Seinem Willen habe ich fortan mein Leben gewidmet.«
»Und dem Tod vieler Unschuldiger?«
Cato schaute sie an. Er rieb sich die Augenwinkel. Er schniefte. Statt zu antworten, fragte er: »Was ist mit Ihrem Bruder?«
Sie presste die Lippen aufeinander. Es dauerte einige Sekunden, bis sie antwortete: »Er ist in Gefahr!«
Cato dachte an Lacie und an die Warnung des Bischofs. Ich mache mir Sorgen seinetwegen. Sie müssen ihn im Auge behalten. Unbedingt. Er sagte: »Ich weiß.«
»Nicht das, was Sie meinen…« Sie fuhr sich mit einer Geste der Verzweiflung über ihren kahl rasierten Schädel. »Nicht Sie oder die anderen, die im Auftrag des Vatikans seit Jahrzehnten Jagd auf meine Familie machen.«
»Was denn dann?«
»Das wissen Sie sehr genau. Sie haben doch die Bücher,
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