Macht (German Edition)
behauptet, dass der Intellekt als unerlaubt passiv und lediglich kontemplativ zu verurteilen ist und dass wir nur in voller Handlung richtig sehen, wie etwa bei einem Kavallerieangriff. Er glaubt, dass Tiere Augen bekamen, weil sie empfanden, dass es angenehm sein würde, sehen zu können; ihr Intellekt wäre nicht imstande gewesen, über das Sehen nachzudenken, da sie blind waren, die Intuition aber konnte dieses Wunder vollbringen. Alle Entwicklung geht nach ihm aus der Begierde hervor, und dieser Entwicklung ist keine Grenze gesetzt, wenn nur der Wunsch leidenschaftlich genug ist. Die tastenden Versuche der Biochemiker, den Mechanismus des Lebens kennenzulernen, sind zum Scheitern verurteilt, denn das Leben ist nicht mechanisch, und seine Entwicklung läuft immer derart, dass der Verstand völlig außerstande ist, es im voraus sich vorzustellen; allein in der Aktion kann das Leben verstanden werden. Daraus folgt, dass die Menschen leidenschaftlich und irrational sein sollten. Zum Glück für Bergson sind sie es im Allgemeinen.
Einige Philosophen lassen ihren Machttrieb nicht ihre Metaphysik beherrschen, lassen ihm aber in der Ethik die Zügel schießen. Der bedeutendste von ihnen ist Nietzsche, der die christliche Moral als Sklavenmoral verwirft und sie durch eine andere ersetzt, die heroischen Herrschern entspricht. Das ist natürlich nicht völlig neu.
Manches davon kann man bei Heraklit finden, einiges bei Plato, vieles in der Renaissance. Aber bei Nietzsche ist es ausgearbeitet und in bewussten Gegensatz zur Lehre des Neuen Testaments gestellt. Seiner Ansicht nach hat die Masse an sich keinen Wert, sondern nur als Mittel zur Größe eines Helden, der berechtigt ist, sie zu misshandeln, wenn er dadurch seine eigene Entwicklung fördern kann. In der Tat haben Aristokratien immer so gehandelt, dass nur eine derartige Ethik sie rechtfertigen konnte; aber die christliche Theorie hat behauptet, dass vor Gott alle Menschen gleich seien. Die Demokratie kann sich auf die christliche Lehre berufen; aber für die Aristokratie ist Nietzsches Ethik die beste. »Wenn Götter wären, wie könnte ich ertragen, kein Gott zu sein? Daher sind keine Götter.« So sagt Nietzsches Zarathustra. Gott muss vom Thron gestürzt werden, um irdischen Tyrannen Platz zu machen.
Die Machtliebe ist ein Teil der normalen menschlichen Natur, aber Machtphilosophie ist, in einem gewissen präzisen Sinn, wahnsinnig. Die Existenz der äußeren Welt, sowohl von Dingen wie auch von anderen Menschenwesen, ist eine Tatsache, die für eine bestimmte Art von Stolz demütigend sein mag, aber nur von einem Verrückten geleugnet werden kann. Menschen, die ihrer Machtliebe erlauben, ihnen eine falsche Anschauung der Welt zu geben, können in jedem Irrenhaus gefunden werden: einer wird glauben, dass er der Gouverneur der Bank von England ist, ein anderer, dass er der König ist, und ein dritter wird sich für Gott halten. Ganz ähnliche Ansichten führen, wenn sie von gelehrten Leuten in dunkler Sprache geäußert werden, zum Titel eines Professors der Philosophie; und werden sie auf beredte Weise von leicht erregbaren Menschen geäußert, so heißt das Ergebnis Diktatur. Irre, die als solche gekennzeichnet sind, werden wegen ihrer Neigung zur Gewalttätigkeit, wenn man ihre Behauptungen bezweifelt, eingesperrt; der nicht gekennzeichneten Gattung verleiht man die Kontrolle über machtvolle Armeen, und sie kann Tod und Verderben über alle Gesunden in ihrem Bereich bringen. Der Erfolg des Wahnsinns in der Literatur, in der Philosophie und Politik ist eine Besonderheit unseres Jahrhunderts, und die erfolgreiche Form des Wahnsinns leitet sich fast gänzlich aus dem Machttrieb her.
Um diese Situation zu verstehen, müssen wir die Beziehung der Machtphilosophie zum gesellschaftlichen Leben betrachten, die verwickelter ist, als man annehmen könnte.
Beginnen wir mit dem Solipsismus. Wenn Fichte behauptet, dass alles vom Ich ausgeht, sagt der Leser nicht: »Alles beginnt mit Johann Gottlieb Fichte! Wie unsinnig! Ich hörte von ihm erst vor ein paar Tagen. Und wie steht es mit der Zeit vor seiner Geburt? Stellt er sich wirklich vor, dass er sie erfunden hat? Was für eine lächerliche Auffassung!« Das, wiederhole ich, sagt der Leser nicht, er setzt sich an die Stelle Fichtes und findet, dass das Argument manches für sich hat. »Schließlich«, denkt er, »was weiß ich schon von der Vergangenheit? Lediglich, dass ich einige Erfahrungen gemacht habe, die ich
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