Macht (German Edition)
ab. Es ist der unpersönliche Charakter seiner Ziele, der ihn vom anarchischen Rebellen unterscheidet. Nur das Geschehen selbst kann für die allgemeine Öffentlichkeit entscheiden, ob eine Empörung schließlich für gerechtfertigt gehalten wird; wenn das der Fall ist, so wird die vorangegangene Autorität von ihrem eigenen Standpunkt aus klug gehandelt haben, wenn sie keinen verzweifelten Widerstand geleistet hat. Ein Individuum kann eine Lebensart oder eine Methode gesellschaftlicher Organisation erkennen, durch welche mehr von den Sehnsüchten der Menschheit erfüllt werden kann als durch die bisher bestehende. Wenn seine Erkenntnis richtig ist und er Menschen überzeugen kann, sich zu ihr zu bekennen, so ist er gerechtfertigt. Ohne Empörung würde die Menschheit stagnieren, und Ungerechtigkeit würde unheilbar sein. Der Mann, der sich weigert, der Autorität zu gehorchen, erfüllt daher unter bestimmten Bedingungen eine legitime Funktion, unter der Voraussetzung, dass sein Ungehorsam eher gesellschaftliche als persönliche Ursachen hat. Aber aus der Natur der Sache selbst geht hervor, dass man hier keinesfalls allgemeingültige Regeln aufstellen kann.
SECHZEHNTES KAPITEL
MACHTPHILOSOPHIE
D er Zweck dieses Kapitels besteht in der Betrachtung bestimmter philosophischer Systeme, die hauptsächlich aus Machtliebe entstanden sind. Ich meine damit nicht, dass Macht ihr Gegenstand ist, sondern dass die Macht die bewusste oder unbewusste Grundlage der Metaphysik und der ethischen Anschauung des Philosophen bildet.
Unser Glaube ergibt sich aus der abgestuften Verbindung von Wunsch und Beobachtung. Manchmal ist die Rolle des einen Faktors ganz gering, manchmal die des anderen. Was man aus empirischen Tatbeständen für sicher erklären kann, ist sehr wenig, und wenn unser Glaube darüber hinausgeht, so spielt der Wunsch eine Rolle bei seinem Werden. Andererseits überleben nur wenige Ansichten den endgültigen, schlüssigen Beweis ihrer Unrichtigkeit, obwohl sie lange Zeit hindurch weiter bestehen können, wenn es weder für sie noch gegen sie Beweise gibt.
Philosophie ist geschlossener als das Leben. Wir haben im Leben viele Wünsche, aber eine Philosophie ist in der Regel von einem beherrschenden Wunsch beseelt, der ihr Zusammenhalt verleiht.
Zu fragmentarisch ist Welt und Leben.
Ich will mich zum deutschen Professor begeben, Der weiß das Leben zusammenzusetzen,
Und er macht ein verständig System daraus.
Verschiedene Wünsche haben das Werk der Philosophen beherrscht. Da ist die Wissbegierde und, was keineswegs dasselbe ist, der Wunsch, zu beweisen, dass die Welt erkennbar ist. Da gibt es die Begierde nach Glück, die Begierde nach Tugend und – als Synthese dieser beiden – die Begierde nach Erlösung. Es gibt die Begierde nach einem Gefühl des Einsseins mit Gott oder mit anderen Menschen. Es gibt die Begierde nach Schönheit, die Begierde nach Freude und schließlich die Begierde nach Macht.
Die großen Religionen streben nach Tugend, aber in der Regel auch nach mehr. Christentum und Buddhismus suchen Erlösung und, in ihrer mehr mystischen Form, Einssein mit Gott oder dem All. Die empirische Philosophie sucht Wahrheit, während die idealistische Philosophie von Descartes bis Kant Gewissheit sucht; praktisch geht es bei allen großen Philosophen bis einschließlich Kant hauptsächlich um Begierden, die zum erkennenden Teil der menschlichen Natur gehören. Die Philosophie Benthams und der Schule von Manchester betrachtet als Ziel das Vergnügen und als hauptsächliches Mittel den Reichtum. Die machtphilosophischen Systeme der Neuzeit sind vor allem als Reaktion gegen das Manchestertum entstanden und als Protest gegen die Ansicht, dass der Sinn des Lebens in einer Reihe von Vergnügen -besteht – ein Ziel, das als zu fragmentarisch und zu wenig aktiv verurteilt wird.
Da das menschliche Leben auf einer ununterbrochenen Wechselwirkung zwischen Entscheidung und unkontrollierbaren Tatsachen beruht, versucht der Philosoph, der von seinem Machttrieb geleitet wird, die Rolle von Faktoren, die nicht das Ergebnis unseres Willens sind, zu verkleinern oder herabzusetzen. Ich denke jetzt nicht nur an Menschen, die die nackte Gewalt verherrlichen, wie Machiavelli und Thrasymachos im »Staat«; ich denke an Männer, die Theorien erfinden, die ihre eigene Machtliebe unter einem metaphysischen oder ethischen Schleier verbergen. Der erste derartige Philosoph der Neuzeit, der auch am weitesten darin geht, ist
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