Macht (German Edition)
psychologische Eroberung ihr folgt, die Fälle jedoch, in denen dies geschah, sind sehr zahlreich.
Nackte Gewalt tritt in der Regierung einer Gemeinschaft, die nicht fremden Eroberern unterworfen ist, unter zwei verschiedenen Gruppen von Umständen auf: erstens da, wo zwei oder mehr fanatische Ideologien um den obersten Rang im Wettstreit liegen; zweitens da, wo alle traditionellen Ansichten im Verfall begriffen sind, ohne dass andere neue sie ersetzt haben, so dass persönlichem Ehrgeiz keine Grenzen gesetzt sind. Der erstere Fall ist kein »reiner«, da die Anhänger der herrschenden Ideologie nicht der nackten Gewalt untertan sind. Ich werde ihn im nächsten Kapitel unter der Überschrift »Revolutionäre Macht« untersuchen. Für den Moment werde ich mich auf den zweiten Fall beschränken.
Die Definition der nackten Gewalt ist psychologischer Art, und eine Regierung kann »nackt« sein im Verhältnis zu einigen ihrer Untertanen, im Verhältnis zu anderen aber nicht. Die vollkommensten Beispiele, die ich kenne, sind, von fremder Eroberung abgesehen, die spätgriechischen Tyranneien und einige italienische Renaissancestaaten.
Die griechische Geschichte weist wie ein Laboratorium eine große Anzahl beschränkter Experimente auf, die für das Studium
der politischen Macht von großem Interesse sind. Das erbliche Königtum des homerischen Zeitalters endete vor dem Beginn der Geschichtsschreibung und war von erblicher Aristokratie gefolgt. Wo die verlässliche Geschichte der griechischen Städte beginnt, lagen Aristokratie und Tyrannis im Kampf. Sparta ausgenommen, war die Tyrannis zeitweise überall siegreich. Ihr folgte aber entweder die Demokratie oder eine restaurierte Aristokratie, manchmal in der Form der Plutokratie. Diese erste Epoche der Tyrannis schloss den größten Teil des siebenten und sechsten Jahrhunderts vor Christi Geburt ein. Es war kein Zeitalter nackter Gewalt wie die spätere Periode, die ich besonders gründlich behandeln werde; nichtsdestoweniger bereitete es der Gesetzlosigkeit und Gewalt späterer Zeiten den Weg.
Das Wort »Tyrann« bezeichnete ursprünglich keine schlechten Eigenschaften des Herrschers, sondern nur das Fehlen eines legalen oder traditionellen Titels. Viele der frühen Tyrannen regierten weise und mit Zustimmung der Mehrheit ihrer Untertanen. Ihre einzigen unversöhnlichen Feinde waren im allgemeinen allein die Aristokraten. Die meisten der frühen Tyrannen waren sehr reiche Leute, die sich den Weg zur Macht erkauften und diese mehr durch wirtschaftliche als durch militärische Mittel hielten. Man könnte sie eher mit den Medici als mit den Diktatoren unserer Tage vergleichen.
Das erste Zeitalter der Tyrannei war jenes, in dem die Münzprägung üblich wurde, und diese hatte etwa dieselbe Wirkung auf den Machtzuwachs reicher Männer wie Kredit und Papiergeld in jüngst verflossener Zeit. Man behauptet – ich bin nicht berechtigt, darüber zu entscheiden, inwieweit dies zutrifft, dass die Einführung der Währung mit dem Aufstieg der Tyrannis in Verbindung steht; gewiss war der Besitz von Silberminen eine Hilfe für den Mann, der Tyrann werden wollte. Der Gebrauch von Geld stört, wenn er jüngeren Datums ist, alte Gebräuche in entscheidendem Maße, wie man in jenen Teilen Afrikas feststellen kann, die noch nicht lange unter europäischer Kontrolle stehen. Im siebenten und sechsten Jahrhundert vor Christi Geburt bewirkte er eine Zunahme der Macht des Handels und eine Machtverringerung der grundbesitzenden Aristokratien. Bis zur Eroberung Kleinasiens durch die Perser gab es wenige und unwesentliche Kriege in der griechischen Welt, und ein unerheblicher Teil der produktiven Arbeit wurde von Sklaven ausgeführt. Die Umstände waren ideal für wirtschaftliche Macht, die den Halt der Tradition in ähnlichem Maße lockerte wie der Industrialismus im neunzehnten Jahrhundert.
Solange es jedem möglich war, zu Wohlstand zu kommen, hatte die Schwächung der Tradition mehr gute als böse Folgen. Sie zog bei den Griechen den bis heute schnellsten Fortschritt der Zivilisation nach sich – mit der möglichen Ausnahme der letzten vier Jahrhunderte. Die Freiheit griechischer Kunst, Wissenschaft und Philosophie ist die eines blühenden Zeitalters, das vom Aberglauben unbehindert dahingeht. Aber die gesellschaftliche Struktur besaß nicht die notwendige Härte, um Widrigkeiten widerstehen zu können, und die Individuen verfügten nicht über die moralischen Grundsätze, kraft derer man
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