Macht (German Edition)
diese Ansprüche keinen anderen Ursprung als Gewohnheit haben, wird die einmal erweckte Kritik leicht mit ihnen fertig. Irgendein neuer Glaube, der den Rebellen nützt, nimmt die Stelle des alten ein, oder manchmal folgt einfach Chaos, wie im Falle Haitis, als es sich von den Franzosen befreit
hatte. Gewöhnlich ist eine lange Periode flagranter Misswirtschaft notwendig, ehe geistige Rebellion einen breiteren Umfang annimmt; und in vielen Fällen gelingt es den Aufständischen, einen Teil oder das Ganze der alten Autorität auf sich zu übertragen. So nahm Augustus die traditionelle Würde des Senats in sich auf; die Protestanten behielten die Ehrfurcht vor der Bibel, während sie der katholischen Kirche den Respekt verweigerten; das britische Parlament nahm dem König allmählich die Macht ab, ohne die Achtung vor der Monarchie zu zerstören.
Hier handelt es sich immerhin um begrenzte Revolutionen; jene, die tiefer gingen, brachten größere Schwierigkeiten mit sich. Wo die Ersetzung der erblichen Monarchie durch eine republikanische Regierungsform plötzlich erfolgt ist, kam es im Allgemeinen zu Unruhe verschiedener Art. Eine neue Verfassung hat keine Herrschaft über die mentalen Gewohnheiten der Menschen und wird, kurzgesagt, nur Achtung gewinnen, insofern sie mit den persönlichen Interessen der Betroffenen übereinstimmt. Ehrgeizige Leute werden darum versuchen, Diktatoren zu werden und von diesem Bemühen nur nach wiederholten Fehlschlägen ablassen. Wenn eine solche Periode von Fehlschlägen nicht eintritt, wird eine republikanische Verfassung nicht in dem Maße über die Gedanken der Menschen Herrschaft erlangen, wie es für ihre Stabilität erforderlich ist. Die Vereinigten Staaten sind fast das einzige Beispiel für eine neue Republik, die von Anfang an stabil gewesen ist.
Die hauptsächliche revolutionäre Bewegung unserer Zeit ist der Angriff von Sozialismus und Kommunismus auf die wirtschaftliche Macht einzelner Personen. Wir dürften erwarten, hier die gemeinsamen Merkmale solcher Bewegungen, wie wir sie zum Beispiel beim Aufstieg des Christentums, des Protestantismus und der politischen Demokratie feststellen konnten, wahrnehmen zu können. Aber über dieses Thema werde ich später mehr zu sagen haben.
SECHSTES KAPITEL
NACKTE GEWALT
I n dem Grad, als die Ansichten und Gewohnheiten, die die traditionelle Macht aufrechterhalten haben, verfallen, wird diese entweder von Macht, die sich auf einen neuen Glauben stützt, oder von »nackter« Gewalt abgelöst, das heißt von einer Art Macht, die keinerlei Zustimmung vonseiten des Untertanen beinhaltet. Von solcher Art ist die Macht des Schlächters über die Schafe, einer eingedrungenen Armee über eine besiegte Nation und der Polizei über entdeckte Verschwörer. Die Macht der katholischen Kirche über Katholiken ist traditionell, aber ihre Gewalt über Ketzer, die verfolgt werden, ist nackt. Die Macht des Staates über loyale Bürger ist traditionell, seine Gewalt über Rebellen jedoch ist nackt. Organisationen, die eine lange Machtentwicklung hinter sich haben, durchlaufen gewöhnlich drei Phasen: zunächst die des fanatischen, aber nicht traditionellen Glaubens, der zur Eroberung führt; weiter jene allgemeiner Billigung der neuen Macht, die nun schnell traditionell wird; schließlich die Phase, in der die Macht, die jetzt gegen die Feinde der Tradition eingesetzt wird, sich wieder zur nackten Gewalt wandelt. Der Charakter einer Organisation unterliegt beim Durchlaufen dieser Stadien sehr erheblichen Veränderungen.
Die durch militärische Eroberung angeeignete Macht hört oft nach einer längeren oder kürzeren Frist auf, rein militärisch zu sein. Alle von den Römern eroberten Provinzen mit der Ausnahme von Judäa wurden bald zu loyalen Teilen des Reichs und fühlten keinen Wunsch mehr nach Unabhängigkeit. In Asien und Afrika unterwarfen sich die von den Mohammedanern eroberten christlichen Länder ihren neuen Herrschern ohne viel Widerstreben. Wales fand sich allmählich mit der englischen Herrschaft ab, während Irland sich gegen sie sträubte. Nachdem die Albigenser Ketzer mit militärischer Macht überwältigt worden waren, unterwarfen sich ihre Nachkommen innerlich und äußerlich der Autorität der Kirche. Die normannische Eroberung zeitigte in England eine königliche Familie, von der man nach einiger Zeit annahm, dass sie ein göttliches Recht auf den Thron besäße. Militärische Eroberung ist nur dann von Dauer, wenn die
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