Macht (German Edition)
keine ethischen Tatsachen.
Die großen ethischen Erneuerer waren nicht Menschen, die mehr als andere wussten; sie waren Menschen, die mehr wünschten
oder, genauer, Menschen, deren Wünsche unpersönlicher und weitsichtiger waren als die von Durchschnittsmenschen.
Die meisten Menschen ersehnen ihr eigenes Glück; ein bedeutender Prozentsatz ersehnt das Glück der eigenen Kinder; nicht wenige wünschen das Glück ihres Volkes; einige ersehnen wirklich und stark das Glück der ganzen Menschheit. Diese Menschen sehen, dass viele andere kein solches Empfinden haben und dass dies ein Hindernis auf dem Wege zur allgemeinen Glückseligkeit ist. Sie wünschen also, dass andere wie sie selbst fühlen möchten; dieser Wunsch kann mit den Worten ausgedrückt werden »Glück ist gut«.
Alle großen Moralisten, von Buddha und den Stoikern bis in die jüngsten Zeiten, haben das Gute als etwas definiert, was möglichst von allen Menschen gleichermaßen genossen werden sollte. Sie dachten von sich selbst nicht als Fürsten oder Juden oder Griechen, sondern lediglich als menschliche Wesen. Ihre Ethik hatte immer einen doppelten Ursprung: Einerseits werteten sie gewisse Elemente in ihrem eigenen Leben; andererseits ließ sie die Sympathie für andere ersehnen, was sie für sich selber ersehnten. Sympathie ist die verallgemeinernde Kraft in der Ethik; ich meine Sympathie als Erregungszustand, nicht als theoretisches Prinzip. Sympathie ist in gewissem Maße instinktiv: Ein Kind kann sich durch das Weinen eines anderen Kindes unglücklich fühlen. Aber Begrenzungen der Sympathie sind ebenfalls natürlich. Die Katze hat keine Sympathie für die Maus, die Römer hatten keine Sympathie für Tiere mit der Ausnahme von Elefanten, die Nazis haben keine für Juden und Stalin hatte keine für Kulaken. Wo es eine Begrenzung der Sympathie gibt, gibt es eine entsprechende Begrenzung in der Konzeption des Guten: Das Gute wird etwas, dessen sich nur der Großherzige oder nur der Übermensch oder der Arier oder Proletarier oder Christadelphier erfreut. Alles das ist Katze-und-Maus-Ethik.
Die Widerlegung einer Katze-und-Maus-Ethik ist, wo sie möglich ist, von praktischer, nicht von theoretischer Bedeutung. Zwei Anhänger einer solchen Ethik beginnen wie streitsüchtige kleine Jungen folgendermaßen: »Wir wollen spielen. Ich bin die Katze, und du bist die Maus.« – »Nein, nein«, gibt jeder zurück, »du sollst nicht die Katze sein. Ich will sie sein.« Und auf diese Weise werden sie ziemlich oft zu Kilkennykatzen (27) . Wenn aber einer von ihnen sich ganz durchsetzt, kann er sein ethisches System errichten; wir erhalten dann Kipling und die Last des weißen Mannes oder die nordische Rasse oder eine ähnliche Anschauung, die auf Ungleichheit beruht. Solche Anschauungen wenden sich unvermeidlich nur an die Katze, nicht an die Maus; sie werden der Maus durch nackte Gewalt aufgezwungen.
Ethische Kontroversen betreffen sehr oft Mittel, nicht Ziele. Sklaverei kann mit dem Argument angegriffen werden, dass sie unwirtschaftlich ist; die Unterordnung der Frau kann kritisiert werden mit dem Hinweis darauf, dass die Unterhaltung mit freien Frauen interessanter ist; religiöse Verfolgung kann aus dem übrigens völlig hinfälligen – Grunde beklagt werden, dass die durch sie hervorgebrachten religiösen Überzeugungen nicht echt sind. Hinter solchen Argumenten aber liegt im allgemeinen ein Unterschied in Bezug auf die Ziele Manchmal wird, wie in Nietzsches Kritik des Christentums, dieser Unterschied deutlich sichtbar. In der christlichen Ethik zählen alle Menschen gleich; für Nietzsche ist die Mehrheit nur ein Mittel für den Helden. Kontroversen über das Ziel können nicht wie wissenschaftliche Kontroversen durch Hinweise auf Tatsachen geführt werden; man muss versuchen, das Fühlen der Menschen zu ändern. Der Christ wird bemüht sein, Sympathie zu wecken, der Nietzscheaner wird an den Stolz appellieren. Wirtschaftliche und militärische Macht können die Propaganda verstärken. Der Wettkampf ist, kurz gesagt, ein gewöhnlicher Machtkampf. Jede Anschauung, selbst die, welche allgemeine Gleichheit lehrt, kann ein Mittel zur Herrschaft eines Teils sein; dies war zum Beispiel der Fall, als die französische Revolution begann, die Demokratie mit Waffengewalt zu verbreiten.
Macht ist das Mittel, im ethischen wie im politischen Wettbewerb. Aber bei den ethischen Systemen, die in der Vergangenheit den größten Einfluss besessen haben, war Macht nicht
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