Macht: Geschichten von Erfolg und Scheitern (German Edition)
auf eine Weise befreit, erlöst vom Druck und der Verwundbarkeit, nach dieser niederschmetternden Italien-Eskapade. Erstmals fühlt er sich selbst und die Möglichkeit, vielleicht ein ganz anderer sein zu dürfen. Einer, der er noch nie war, weil der Fußball ihn geformt hat zu jemandem, »den der Fußball verträgt«.
Nach einigen vereinslosen Wochen verpflichtet ihn West Ham United. London, da ist er zu Hause. Da ist er »the hammer«, der mit dem unaufhaltsamen Schuss. Er verletzt sich und fällt ein halbes Jahr aus. Aber er wird gebraucht, seine Rückkehr aufs Feld herbeigesehnt, das hat er lange nicht gespürt. Am vorletzten Spieltag spielt er noch mal Fußball, so wie er ihn liebt. Strömender Regen, leidenschaftlicher Kampf, unbändiger Wille. Seine Mannschaft führt 2:0 zur Halbzeit, beide Tore bereitet er mit Freistößen vor, die er stundenlang nach dem Training geübt hatte. »Es gab keinen Ort, an dem ich in diesen neunzig Minuten lieber hätte sein wollen.« Er sagt das voller Emphase und offenbart gleichfalls die so vertrauten Fluchtphantasien. Das Spiel geht 3:2 verloren und damit das Leben in London, seiner Lieblingsstadt. Er sei zu gut für die zweite Liga entscheidet sein Verein. Er war bereit, das anders zu sehen, um bleiben zu können.
Er wechselt dann noch mal zurück in die Bundesliga, nach Wolfsburg, vielleicht das drastischste Kontrastprogramm zu London und der dortigen Ungezwungenheit. Aus Vernunft viel mehr als aus Überzeugung. Sein Körper lässt sich im Gegensatz zu seinem Kopf nicht disziplinieren und verweigert die Gefolgschaft. Nach einer Saison löst er den Vertrag auf, zwei Jahre vor Vertragsende. Und fühlt sich endlich wirklich frei.
Wann die Begeisterung gekippt ist, die Erfüllung seines Traums zu einer Anstrengung wurde, darüber hat er oft nachgedacht. Bei jedem sei das anders. Bei den einen ist es der Punkt, an dem sie ihr Ziel erreicht haben und plötzlich andere Dinge in den Vordergrund rücken. Popularität, Autos, die Verlockungen sind groß. Bei ihm war es der Perfektionismus, der irgendwann vom Freund zum Gegner wurde. Mit den ersten Rückschlägen. »Der Job ist großartig, wenn alles gut läuft. Dann ist jeder Tag ein Freudentag, jede Trainingseinheit macht Spaß.« Aber er ist hart, wenn der Misserfolg Gesichter braucht. Wenn das Denken beginnt, die Zweifel am eigenen Spiel, das Interpretieren des Verhaltens des Trainers, das Zermartern. Warum spielt der andere und nicht ich? Werde ich noch gebraucht? Wie werde ich gesehen? Viele Fragen und selten eine Erklärung. Das Feedback ist laut, Degradierung, Schlagzeilen, Noten, Pfiffe. Zeugnisse am schwarzen Brett. Wer den Druck einmal auf diese Weise gespürt hat, verliert die Unbefangenheit. Und die Fähigkeit zum ungetrübten Genuss.
Deshalb wünscht er sich so, er könnte die Sekunden des absoluten Glücks nach dem Meisterschaftstor ab und an wieder hervorholen, das Gefühl reproduzieren. Die Freude hat damals immerhin ein paar Tage angehalten. Dann stand mit dem Pokalfinale der nächste Höhepunkt bevor. Der frischgekürte Meister verlor, eine Enttäuschung. Inzwischen sei das alles noch viel extremer geworden, es gibt kaum Nischen der Zufriedenheit. Aber er mag nicht zu kritisch sein mit seinem Beruf und dem gesamten Geschäft. Eine Krankenschwester habe auch einen anstrengenden Job und verdient viel weniger Geld, zitiert er den Vergleich, den er in den vergangenen Jahren hundertmal so oder ähnlich gehört hat. Und schließlich liebt er den Fußball, das ehrliche Spiel. Aber er will auch nicht unangetastet stehen lassen, dass es immer nur ein Privileg ist, Profi zu sein.
Viermal umziehen in drei Jahren, heute gefeiert und morgen nicht mehr gebraucht zu werden. Manchmal ohne Erklärung. Führungsspieler sein, Typen werden gefordert, aber bitte nicht zu sehr, nicht zu anders. Verunglimpft, vor den Augen von Millionen, allein mit der Scham. Und mit der Wut. Weil es zum Anforderungsprofil gehört, mit dem Gehalt abgegolten ist. So wie jetzt während der EM. Er beobachtet das und fühlt sich hinein in seine Kollegen. »Bei all dem, was der Beruf zu recht von einem Profi verlangt, bleibt am Ende immer noch der Mensch.« Mit menschlichen Reaktionen. Auf unflätige und geschmacklose Kritik. Auf die Ausprägung eines unveränderbaren, wenn auch verfälschten Bildes: »Bei den Leuten bleibt immer etwas hängen.«
So oder ähnlich versucht er sich all denjenigen zu erklären, die seinen Abgang nicht verstehen wollen. Die
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