Macht Musik schlau?
Hirnforschung im Zusammenhang mit der Verarbeitung von Musik eingegangen. Allerdings denke ich, dass eine etwas genauere Betrachtung, wie und wo das Gehirn Musik verarbeitet, durchaus gerechtfertigt ist. Warum ist dieses Thema eigentlich so interessant oder zumindest in den letzten zehn Jahren so interessant geworden? Mein geschätzter Kollege Michael Hagner hat in seinem bemerkenswerten Buch «
Geniale Gehirne»
eigentlich schon die Antwort auf diese Frage formuliert, indem er die Attraktivität des menschlichen Gehirns im historischen Kontext beschrieben hat (Hagner, 2004). Der Mensch war schon vor etwa 4000 Jahren an dem Gehirn interessiert, verlor allerdings durch philosophische und religiöse Umorientierungen bald sein Interesse. Es dauerte bis in das späte Mittelalter, bis das Interesse am menschlichen Gehirn wieder erwachte. Eine bedeutende (allerdings falsche) Reorientierung zum Gehirn als zentrales Organ für die Kontrolle psychischer Funktionen zumindest in populärwissenschaftlichen Kreisen entstand durch die Phrenologie. Die beiden Protagonisten dieser Richtung (Franz Josef Gall, 1758â1828, und sein Schüler Johann Spurzheim, 1776â1832) versuchten aus den Unebenheiten der Schädeloberfläche auf die Beschaffenheit des darunter liegenden Hirngewebes zu schlieÃen und diese anatomischen Eigenarten dann mit bestimmten psychischen Funktionen in Beziehung zu bringen. Das Interessante dieses Ansatzes ist, dass Gall davon ausging, dass das Gehirn der eigentliche Sitz aller geistigen Tätigkeit des Menschen sei. Insofern war er durchaus konzeptuell aus heutiger Sicht fortschrittlich. Der Charakter eines Menschen und letztlich auch die Intelligenz waren für ihn an eine Anzahl von «Organen», d.h. materiell vorhandene Teile des Gehirns gebunden, wobei jedes «Organ» Sitz einer charakteristischen Verstandesgabe oder eines Triebes war. Für Gall war die GröÃe und Form der einzelnen «Organe» (also Hirngebiete) ein Maà für die Ausprägung derjeweiligen Charaktereigenschaft. Die charakterliche Gesamtveranlagung einer Person sollte in den Proportionen der «Organe» zueinander vorbestimmt sein. Dieser Denkansatz war seinerzeit recht populär und hat zur Gründung von phrenologischen Gesellschaften und entsprechenden Zeitschriften geführt. Diese «Lehre» fand auch praktische Anwendungen bei der Partnervermittlung und der Vorhersage von Talenten und Fähigkeiten bei Kindern. Sehr beliebt waren auch phrenologische Betrachtungen von verstorbenen berühmten Persönlichkeiten. Aus heutiger Sicht hat sich dieser Ansatz als Irrweg erwiesen. Er ist nie empirisch untersucht worden, sondern entstammt eigentlich nur einer spekulativen Betrachtung. Gleichwohl hat dieser Denkansatz seine Spuren bis in die heutige Zeit hinterlassen und äuÃert sich in dem noch immer virulenten Wunsch, psychische Funktionen ganz bestimmten Hirngebieten zuzuordnen (Lokalisationsansatz). Interessant im Kontext dieses Buches ist, dass die Phrenologen bereits ein «Organ» zu identifizieren glaubten, das speziell für Musik und Musikverarbeitung zuständig sei (s. Abb. 50 ). Dieses Hirngebiet sollte schräg oberhalb des Ohres leicht nach vorne versetzt liegen (Jäncke, 2007).
Bedeutend, wenn nicht gar bahnbrechend, waren die Fallbeschreibungen der Neurologen
Paul Broca
und
Carl Wernicke
im 19. Jahrhundert. Beide belegten erstmals, dass bestimmte Hirnfunktionen (Ausführungskontrolle von Sprache und Sprachwahrnehmung) an die Intaktheit ganzbestimmter Hirngebiete gebunden sind. Zur Musikverarbeitung haben Broca und Wernicke keine besonderen Angaben gemacht. Hirnforscher haben sich in der Folge immer dann für Musiker interessiert, wenn es darum ging, auÃergewöhnliche Musiker zu verstehen. Dieses Interesse an «Elitegehirnen» zieht sich wie ein roter Faden durch die Wissenschaftsgeschichte. So haben die berühmten Neuroanatomen Paul Emil Flechsig (1847â1929) und Richard Arwed Pfeifer (1877â1957) (1936) die Gehirne verstorbener Musiker untersucht, um eventuelle Besonderheiten im anatomischen Aufbau zu identifizieren. Gelegentlich wurden auch die Gehirne berühmter Musiker nach schweren neurologischen Schäden untersucht (der Fall Maurice Ravel; s. auch Abschnitt 8.2, S. 302 ff.). Diese Versuche blieben natürlich aufgrund der Fokussierung auf einige wenige Gehirne eher rudimentärer Natur. Mit den modernen
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