Macht Musik schlau?
Folge spezifischer und individueller Erfahrungen ist es dann möglich, diese Analysen unter Umständen schneller, effizienter und qualitativ anders durchzuführen. Wir werden auf diesen Aspekt in Kapitel 8 noch etwas genauer eingehen. Wichtig ist im Moment nur, dass je nach Erfahrung diese Analysen sehr individueller Natur sein können. Besonders individuell ist die Ankopplung an die so genannten «höheren» Verarbeitungsstufen, an denen das Gedächtnis und die Emotionen beteiligt sind. Welche Emotionen ausgelöst werden und wie das Musiklexikon eingebunden wird, um das Gehörte einzuordnen, ist von der individuellen Erfahrung abhängig, denn jeder Mensch hat sein individuelles assoziatives Gedächtnis. Manchmal hat man einen derart engen Bezug zu einer bestimmten Musik, dass man quasi ohne sein eigenes Dazutun in die Musik hineingezogen wird. So etwas passiert bei mir beim Hören von Antonio Vivaldis
Vier Jahreszeiten
und insbesondere beim
Frühling
(Konzert op. 8 Nr. 1 in E-Dur, RV 269). Beim Hören dieses Musikstückes habe ich plastisch den Eindruck, ich würde auf einer Wiese gehen, würde das frische Gras riechen und Vögel zwitschern hören. Man erkennt hier sehreindrücklich, dass Musik viele inhaltliche Anknüpfungspunkte an das assoziative Gedächtnis finden kann. Neben diesen Inhalten werden auch mehr oder weniger starke Verknüpfungen zur Motorik hergestellt, um möglicherweise Singen und Tanzen oder andere motorische Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Musikhören zu aktivieren. Diese verschiedenen Analysen werden in unterschiedlichen Hirngebieten durchgeführt. Wichtig ist, dass es sich dabei um eine klassische Netzwerkanalyse handelt, in der das wahrgenommene Musikerereignis und das damit verbundene Musikerlebnis das Produkt eines weit verzweigten Netzwerkes sind, in das viele verschiedene Hirnstrukturen «eingewoben» sind. Wenn zu den oben angesprochenen Funktionen noch das Musizieren und eventuell das Musizieren vom Blatt hinzukommen, werden noch weitere Funktionsmodule angesprochen. Bei einem singenden oder musizierenden Menschen können demzufolge weite Bereiche des Gehirns aktiviert sein, während er Musik hört oder selbst musiziert.
Wenn man all jene Hirngebiete, die an den oben genannten Analysen beteiligt sind, auf einem Standardgehirn 45 markiert, erkennt man erstaunlicherweise, dass im Falle eines aktiv Musizierenden (also bei jemandem, der gerade musiziert) weit mehr als die Hälfte des Gehirns aktiv ist (vgl. auch Abb. 52 sowie Tab. 3 ). Auch wenn man nicht aktiv musiziert, sondern lediglich bewusst in die Musik «hineinhört», sind weite Teile des Gehirns aktiv. Lediglich jene Hirngebiete, die an der motorischen Kontrolle (Hände, Beine und Stimmapparat) beteiligt sind, werden dann etwas weniger aktiv sein.
Die hier dargestellten Hirngebiete repräsentieren ein neuronales Netzwerk für die Musikwahrnehmung und -produktion. Jedes einzelne Hirngebietdieses Netzwerkes hat eine besondere Funktion. Man könnte auch sagen, dass das Netzwerk als Team aufzufassen ist, in dem die einzelnen Spieler (einzelne Funktionsmodule) spezifische Aufgaben übernehmen. Nur das reibungslose gemeinsame Funktionieren der Einzelspieler als Team lässt die Musikwahrnehmung und/oder die Musikproduktion zu. Je nach Aufmerksamkeitsfokus wird das eine oder andere Modul stärker oder schwächer aktiv sein und demzufolge mehr oder weniger zum Gesamtergebnis beitragen. So wird z.B. ein Dirigent weniger einen emotionalen Hörzugang bei dem zu probenden Stück aufweisen, da er mehr auf methodische Aspekte der Musik Wert legt. Abends in der Disco werden eher die motorischen und emotionalen Aspekte der Musik im Vordergrund stehen.
Abbildung 52: Darstellung der Hirngebiete, die an der Kontrolle des Musizierens beteiligt sind (s. auch Tab. 3 ).
Nachdem ich den Bottom-Up-Weg der Musikwahrnehmung zumindest funktionell beschrieben habe, erlaube ich mir, kurz zu charakteriseren, welche einzelnen Hirngebiete für die oben dargestellten Analysen im Wesentlichen zuständig sind. Für die Musikwahrnehmung ist natürlich der Hörkortex wesentlich. Er besteht aus verschiedenen Teilgebieten, auf die hier nicht im Detail eingegangen wird. In Tabelle 3 sind diese Hirngebiete mit ihren wesentlichen Funktionen zusammengefasst. Im Hinblick auf die Musikwahrnehmung wurde und wird immer wieder geäuÃert, dass Musik eher von
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