Macht Musik schlau?
2004, S. 17â22). Die ÃuÃerungen der Bratscherin lassen vermuten, dass sich hier eine schwerwiegende Musikererkrankung anbahnt.
Musikererkrankungen, die einen direkten Bezug zu emotionalen Belastungen haben, werden eigentlich nicht häufig thematisiert, obgleich sie enorme negative Auswirkungen haben. Eine etwas ältere Studie der
International Conference of Symphony and Opera-Musicians
(ICSOM) aus dem Jahre 1987, in der über 400 Musiker befragt wurden, ergab, dass rund 82 % der Musiker körperliche und/oder psychische Beschwerden hatten. Von den befragten Musikern gaben sogar 76 % an, unter ernsthaften Beschwerden zu leiden, die ihre Musikausübung behindere. Zu den «ernsten Beschwerden» gehörte neben verschiedenen Schmerzen (Nacken-, Hand-, Schulter- und Rückenschmerzen) vor allem das Lampenfieber. Manchmal kann das Lampenfieber so stark und überwältigend werden, dass die Musiker ihr Musikgedächtnis verlieren. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass die starke psychische Belastung zur Ausscheidung von viel Kortisol in das Blut führt. Hohe Cortisolkonzentrationen im Blut resultieren in Beschädigungen von bestimmten Hirnstrukturen, insbesondere des für das Gedächtnis so wichtigen Hippokampussystems. Im Hippokampus werden die neu gelernten Gedächtnisinformationen mit vielen weiteren Informationen gekoppelt. Man lernt so, «wann» und «wo» etwas gelernt wurde. Wenn diese Hirnstruktur allerdings beschädigt wird, dann gehen diese Verbindungen verloren oder werden im Gedächtnis falsch «abgelegt» oder «wiedergefunden». Ist bei einem Musiker dieses System geschädigt, verliert er tatsächlich den Zugang zu seinem Musikgedächtnis. Ich habe vor einigen Jahren in meinem Instituteine russische Pianistin untersucht, die unter einem solchen stressbedingten Gedächtnisproblem litt. Hintergrund ihres Problems war der extrem hohe Anspruch, dem sie sich selbst ausgesetzt hatte. Ihr war es besonders wichtig, in ihrer Heimatstadt St. Petersburg vor ihren alten Lehrern zu bestehen. Nachdem sie endlich die heià ersehnte Einladung zu einem wichtigen Konzert in ihre Heimatstadt erhalten hatte, begann sie, sich mit ungeheurem Aufwand auf dieses Ereignis vorzubereiten. Die Tage vor dem Konzert waren eine Qual für sie. Sie konnte nicht mehr schlafen und litt unter furchtbarem Lampenfieber. Bei Konzertbeginn beruhigte sie sich damit, dass sie ja noch nie in ihrem Leben soviel geübt hatte. Sie merkte aber, dass eine unspezifische Angst in ihr aufstieg, sobald sie sich ihr Repertoire für den Konzertabend ins Gedächtnis rief. Sie hoffte, diese Angst durch Entspannungsübungen in den Griff zu bekommen. Was jedoch am Abend des Auftrittes passierte, hatte unerwartete Konsequenzen für sie â bis zum heutigen Tag. Nachdem sie auf das Konzertpodium hinausgetreten war und das groÃe Publikum vor sich gesehen hatte, war sie derart überwältigt, dass sie sich wie gelähmt fühlte. Sie berichtete, dass sie den Applaus gar nicht mehr wahrnahm. Sie setzte sich auf den Schemel vor ihrem Konzertflügel, versuchte sich zu entspannen und musste feststellen, dass sie alles vergessen hatte, was sie spielen wollte. Das gesamte Repertoire, das sie sich in schweiÃtreibendem mehrmonatigem Training beigebracht hatte, war ihr nicht mehr präsent. Sie wusste nicht mehr, was sie spielen wollte, wie der Komponist ihres Stückes hieÃ, geschweige denn wie es zu spielen war. Sie schaute verzweifelt ins Publikum â und hat von da an einen «Filmriss». Hinterher sagte man ihr, dass sie zusammengebrochen sei. Ihr Körper hatte sie aus der für sie peinlichen Situation gerettet und einen Nervenzusammenbruch «inszeniert». Diesen Augenblick hat sie bis heute nicht vergessen, er hat sich wie ein «Schuss ins Gehirn» in ihr Gedächtnis eingebrannt. Dieses Ereignis war im Ãbrigen so sehr und untrennbar mit dem zu dem spielenden Repertoire gekoppelt, dass sie jedes Mal in Ohnmacht fiel, wenn sie diese Musik spielen sollte. So auch bei mir im Labor, als ich sie bat, auf unserem elektronischen Klavier einige der Stücke zu spielen, die sie am St. Petersburger Konzert spielen wollte.
Dieser spektakuläre Fall zeigt, dass auch unangenehme Lerneffekte mit dem Musizieren verbunden sein können. Ebenso könnte die fokale Dystonie (auch Musikerkrampf genannt) eine unangenehme Konsequenz des intensiven
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