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Macht Musik schlau?

Macht Musik schlau?

Titel: Macht Musik schlau? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Jäncke
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die Absoluthörer häufiger charakteristische Fehler machten. Die Betroffenen stuften Töne vermehrt zu hoch ein. So wurde ein vorgespieltes Dis fälschlicherweise als E identifiziert. Die Kollegen spekulieren, dass mit den Jahren die Basilarmembran elastischer würde, was dazu führen würde, dass die jeweiligen Haarzellen nun bei niedrigeren Frequenzen ansprechen, während sie im auditorischen Kortex aber noch mit dem ursprünglichen Ton verknüpft sind. Ferner belegten die Wissenschaftler, dass der Kammerton /a’/ (440 Hz) die Tonhöhenwahrnehmung anderer Töne beeinflusst. Der Grund dafür ist, das der Kammerton zum Stimmen der Instrumente verwendet wird. Im Laufe der Jahrhunderte schwankte dieser Wert zwischen 415 und 446 Hz. Je nach Tonhöhe erschwert er offenbar die korrekte Einstufung der angrenzenden Halbtöne Gis und Ais.
    Als Reaktion auf unsere Publikation über die anatomischen Besonderheiten des absoluten Gehörs 1995 in der Wissenschaftszeitschrift
Science
, machte uns Oliver Sacks in einem Leserbrief darauf aufmerksam, dass er viele Autisten mit absolutem Gehör kenne (Sacks, 1995). Das Bemerkenswerte des absoluten Gehörs bei Autisten ist, dass einige keinen direkten Bezug zu Musik haben. Das heißt sie haben das absolute Gehör entwickelt, ohne zu musizieren. Typische Beispiele sind Fälle, wonach Autisten den Klang, den man beim Anschlagen einer Salatschüssel mit einem Löffel hervorrufen kann, perfekt identifizieren. Wenn die betreffende Salatschüssel zerstört ist und man sie durch eine Schüssel der gleichen Firma und Bauart ersetzt, ist es durchaus möglich, dass ein Autist mit absolutem Gehör erkennt, dass es sich um eine andere Salatschüssel handelt. Dieses Beispiel zeigt eindrücklich, dass das absolute Gehör nicht unbedingt eine Fertigkeit ist, die ausschließlich im Rahmen des Musizierens auftreten muss.
    4.8
    Musiker und Nichtmusiker
    In den vorangegangenen Abschnitten habe ich die möglichen Einflüsse des Musizierens auf das verbale Gedächtnis, das Musikgedächtnis, visuell-räumliche Fertigkeiten, Rechenleistungen, Musikwahrnehmung und motorische Fertigkeiten beschrieben. Bei all diesen Diskussionen darfman nicht vergessen, dass Musiker (Profi- wie Laienmusiker) zunächst das Musizieren pflegen, weil es ihnen Spaß macht oder weil es ihr Broterwerb ist. Musiker sind zweifellos etwas Besonderes, einfach deswegen, weil sie etwas Besonderes können, nämlich musizieren. Das soll nicht bedeuten, dass sie grundsätzlich über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügen, sondern sie haben eine Expertise entwickelt, die uns in Erstaunen versetzt, aber auch erfreut. Manchmal erscheinen uns die Musikleistungen von Musikern unerreichbar, deshalb verwenden wir gerne den Begriff «genial» um die «Entfernung» von unseren Möglichkeiten auszudrücken. Aber geht es uns nicht mit allen Fertigkeiten, die wir schätzen, genauso? Sind wir nicht von dem außergewöhnlichen Maler beeindruckt, der so wunderbar eine Stimmung auf einem Bild festhalten kann? Haben Sie nicht auch schon staunend Michelangelos David betrachtet und sich gefragt, wie dieser Künstler das überhaupt bewerkstelligt hat, über mehrere Jahre hinweg diese wunderbare Statue zu erschaffen? Bei all diesen außergewöhnlichen Tätigkeiten fällt es uns schwer nachzuvollziehen, dass dies «normale» Menschen bewerkstelligt haben sollen. Was man selbst nicht nachvollziehen und verstehen kann, wird dann sehr schnell den übernatürlichen Kräften oder gar den alles erklärenden Genen zugeschrieben. Insofern geht so mancher davon aus, dass Musiker besonders begabt seien und diese Begabung sie quasi zur Musik «getrieben» habe. Immer wenn «Begabungen» ins Spiel gebracht werden, kniet der Laie quasi nieder und versinkt vor Ehrfurcht. Dann tritt meistens noch ein weiteres interessantes Phänomen in Erscheinung. Wegen ihrer Sonderbegabung schreiben wir Musikern auch besondere Fähigkeiten in anderen Bereichen zu. Viele Nobelpreisträger berichten teilweise amüsiert oder gar belästigt von ähnlichen Phänomenen. Nachdem sie den Nobelpreis erhalten haben, werden sie von der Öffentlichkeit automatisch zu Experten in allen Lebensfragen gemacht. In der Psychologie ist dieser Ausstrahlungseffekt bereits seit langem bekannt.
    Gerade klassische Musiker «profitieren» von

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