Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Macht Musik schlau?

Macht Musik schlau?

Titel: Macht Musik schlau? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lutz Jäncke
Vom Netzwerk:
verschwindend wenige der Absoluthörer geben an, nach dem 10. Lebensjahr mit dem Musiktraining begonnen zu haben.

    Abbildung 38: Zusammenhang zwischen Beginn des Musiktrainings und dem Vorliegen des absoluten Gehörs.
    Möglicherweise fällt die Ausbildung des absoluten Gehörs zeitlich mit anatomischen und neurophysiologischen Reifungsprozessen im auditorischen System zusammen. Denkbar ist auch, dass in der frühen Kindheit insbesondere die Muttersprache intensiv trainiert wird, so dass sich starke Interaktionseffekte zwischen Sprach- und Tonwahrnehmung einstellen, die einen nachhaltigen Effekt auf die Tonwahrnehmung und die Ausbildung des absoluten Gehörs entfalten können.
    Neuroanatomie und Neurophysiologie des absoluten Gehörs
    Unsere Arbeitsgruppe stellte in einer bereits 1995 publizierten Arbeit fest, dass bei absolut hörenden Musikern das Planum temporale, ein Hirngebiet auf der linken Seite im Schläfenlappen, besonders groß war, während das gleiche Hirngebiet in der rechten Hirnhälfte im Hinblick auf die Größe entweder unauffällig oder aber kleiner als bei nicht absolut Hörenden war (Schlaug, Jäncke, Huang und Steinmetz, 1995). Es lag also eine atypisch große 26 Links-rechts-Asymmetrie für dieses Hirngebiet vor. Dieses Hirngebiet gehört zum Hörkortex und wird in der Fachsprache als sekundärer Hörkortex bezeichnet, weil es für die Analyse von komplexeren akustischen Reizen zentral ist. Es ist anatomisch anders aufgebaut als der primäre Hörkortex, der bei der Analyse von einfacheren akustischen Reizen eine Rolle spielt. Insofern wird das Planum temporale als eine besondere Teilstruktur des Hörkortex aufgefasst. Das linksseitige Planum temporale wird als Teil des Sprachsystems aufgefasst. Daher ist es schon erstaunlich, dass ausgerechnet dieses Hirngebiet irgendwie mit dem absoluten Gehör assoziiert ist.
    Grundsätzlich bleibt festzuhalten, dass das absolute Gehör primär eine Benennungsleistung ist. Nach allem, was wir derzeit wissen, ist das absolute Gehör nicht mit besonderen grundlegenden Hörfähigkeiten gekoppelt. Absolut hörende Menschen weisen bei elementaren auditorischen Wahrnehmungen – beispielsweise bei der Unterscheidung von Tonhöhen – prinzipiell die gleichen Wahrnehmungsschwellen auf wie Musiker ohne absolutes Gehör. Lässt man absolut Hörende Töne benennen und misst währenddessen die Hirndurchblutung mittels der funktionellen Magnetresonanztomographie, kann man besonders starke Durchblutungen insbesondere im oberen Stirnhirn feststellen. Nicht absolut Hörende weisen in diesem Hirngebiet nur dann Durchblutungszunahmen auf, wenn sie Tonintervalle benennen müssen, also wenn sie eine Quinte oder Sekunde als solche benennen sollen. Absoluthörer und Nichtabsoluthörer aktivieren also das gleiche Hirngebiet, wenn sie Töne benennen sollen. Absoluthörer benennen jedoch einzelne Töne, während Nichtabsoluthörer Tonintervalle benennen. Neben dem Stirnhirn spielen auch der sekundäre Hörkortex und das Planum temporale eine zentrale Rolle beim absoluten Hören. Dies zeigte eine Arbeit einer japanischenArbeitsgruppe, die feststellen konnte, dass bei Absoluthörern der linksseitige Hörkortex (insbesondere das Planum temporale) beim Musikhören besonders stark aktiviert war (Ohnishi et al., 2001). Der Grund für diese Aktivierung ist wahrscheinlich, dass absolut Hörende akustische Ereignisse mit verbalen Bezeichnungen koppeln. Das bedeutet, dass sie die Klangereignisse entdecken, analysieren und kategorisieren müssen, bevor sie zu den Benennungszentren geleitet werden. Zumindest die ersten Analyseschritte werden im sekundären Hörkortex bewerkstelligt. Hierbei muss man bedenken, dass Absoluthörer eigentlich einen «untypischen» Wahrnehmungsweg einschlagen. Sie analysieren Töne kategorial und nicht kontinuierlich. Das bedeutet, sie ordnen eine bestimmte Frequenzkategorie einem bestimmten Begriff zu. Der zu kategorisierende Ton muss nicht eine ganz bestimmte Frequenz aufweisen, sondern er muss in einem Frequenzbereich liegen (z.B. zwischen 438 und 442 Hz für den Kammerton /a’/). Ein Absoluthörer wird dann Töne, die in diesem Frequenzbereich liegen, einer Kategorie zuordnen. Hierbei wird er auch Töne, die leicht von der perfekten Frequenz (440 Hz) abweichen, als Kammerton /a’/ identifizieren.

Weitere Kostenlose Bücher