Macht Vakuum
Europäer hinter Lagarde stellten, hatte wenigstens zum Teil europäische Gründe. Die härteste Aufgabe des IWF im Juli 2011 bestand darin, die europäischen Institutionen in ihren Anstrengungen zur Wiederherstellung des Vertrauens in die peripheren Volkswirtschaften der EU zu unterstützen, indem er zwischen den Forderungen der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und der einzelnen europäischen Staaten, insbesondere jedoch Deutschlands und Frankreichs, vermittelte. Trotzdem war Lagarde nur deshalb eine sichere Kandidatin, weil sich die Schwellenländer in ihrer Opposition alles andere als einig waren und sich nicht auf einen ernsthaften Alternativkandidaten einigen konnten.
Bevor die Entscheidung für Lagarde endgültig fiel, schrieben chinesische, indische, russische, brasilianische und südafrikanische Regierungsvertreter in einem offenen Brief, dass die Ernennung eines weiteren Europäers die Legitimität des Fonds untergraben werde, wobei die Chinesen ohne jede Selbstironie auf »demokratische« Fairness bei der Bestimmung des Nachfolgers drängten. 19 Strauss-Kahns plötzlicher Rücktritt hatte die Schwellenländer kalt erwischt, aber selbst wenn sie genug Zeit gehabt hätten, um ihre Reaktion zu koordinieren, wäre es ihnen vermutlich schwergefallen, sich auf einen allgemein akzeptierten Kandidaten zu einigen. Da immer mehr Schwellenländer internationale Kreditgeber werden, ist zu erwarten, dass sich das Kräfteverhältnis in diesen Institutionen allmählich zu ihren Gunsten verschieben wird. Trotzdem sind sie sich noch in vielen Streitfragen uneinig, und die schnelle Entscheidung für Lagarde ist ein Hinweis darauf, dass wir das Tempo der Machtverschiebung oder die Fähigkeit der Schwellenländer, in irgendeiner wichtigen Sache langfristig zusammenzuarbeiten, nicht überschätzen sollten.
Ein weiterer wichtiger Test für die Stärke der Schwellenländer wird mit der Ernennung des nächsten Weltbankpräsidenten kommen. Dieser Posten wurde seit der Gründung der Bank stets von einem US-Amerikaner bekleidet. Da den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) die Führungsrolle beim IWF verweigert wurde, könnten sie sich nun veranlasst sehen, einen attraktiven eigenen Kandidaten für den Posten des Weltbankdirektors aufzustellen. Doch das internationale System dieser im Wandel begriffenen Welt ist nicht nur in die etablierten Industriestaaten und die Schwellenländer gespalten, auch innerhalb der beiden Gruppen herrscht nur wenig Einigkeit über die Ziele. Diese Uneinigkeit kann eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Organisationen, die sieben Jahrzehnte zuvor darauf angelegt wurden, die US-amerikanische und die europäische Führung zu zementieren, nur erschweren. Wenn es aber nicht gelingt, die Macht neu zu verteilen, wird das Schwellenländer dazu veranlassen, diesen Organisationen ihre Unterstützung zu entziehen und womöglich eigene aufzubauen.
In der Vergangenheit wandten sich Entwicklungsländer an die Weltbank oder an den Internationalen Währungsfonds, wenn sie ein finanzielles Rettungspaket brauchten. Doch diese Institutionen, und das heißt die Amerikaner und Europäer, die ihre Entscheidungsprozesse weitgehend bestimmten, bestanden im Austausch gegen die Kredite darauf, dass die betroffenen Länder bestimmte wirtschaftliche und politische Reformen durchführten. Dies verschaffte dem Westen mehr Einfluss als dem Rest der Welt.
Heute jedoch wenden sich viele Entwicklungsländer nicht mehr an die geschwächten Institutionen des Westens, sondern an reiche Schwellenländer, um sich Geld zu leihen oder sich neue Straßen, Brücken, Häfen, Schulen und Krankenhäuser bauen zu lassen, denn die neuen Kreditgeber verlangen weder die Durchführung von Reformen noch eine genaue Aufstellung über die Verwendung der Kredite. Tatsächlich ist China in dem Bestreben, sich den Zugang zu sämtlichen Gütern zu sichern, die seine Volkswirtschaft braucht, zu einem wichtigen internationalen Kreditgeber geworden. In den Jahren 2009 und 2010 vergaben die staatliche China Development Bank und die ebenfalls staatliche Export-Import Bank of China Kredite im Wert von mehr als 110 Milliarden Dollar an Staaten und Unternehmen in der Dritten Welt. 20 Das ist mehr, als die Weltbank, und viel mehr, als der IWF im selben Zeitraum vergaben. Die chinesischen Banken haben einen politischen Auftrag: Sie sollen den politischen und wirtschaftlichen Interessen des chinesischen Staates
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