Macht Vakuum
bis ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts hinein die internationale Agenda.
Die Finanzkrise des Jahrs 2008 setzte dem ein Ende und beschleunigte den unvermeidlichen Übergang zu einer neuen Ordnung, in der auch die stetig wachsende politische und wirtschaftliche Bedeutung von Schwellenländern wie China, Indien, Brasilien, der Türkei, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Südafrika berücksichtigt wurde. Im November 2008 wurde die G20 geboren, als sich Vertreter von 19 Ländern und der Europäischen Union in Washington trafen, um die Weltwirtschaft vor dem Sturz in den Abgrund zu bewahren. Einige priesen die Entstehung der G20 als großen Fortschritt, weil dieses Forum endlich nicht nur den wahren internationalen Kräfteverhältnissen entsprach, sondern auch der sozialen und kulturellen Vielfalt der Welt. So erklärte 2008 der indische Premierminister Manmohan Singh: »Die G20 wird sich als das wichtigste einzelne Forum zur Behandlung der finanziellen und wirtschaftlichen Probleme der Welt behaupten.« 18
Die Realität hat sich als komplizierter erwiesen. Nur wenn sich alle Mitglieder der Gruppe im gleichen Moment durch das gleiche Problem bedroht fühlen, ist die G20 in der Lage, bedeutende Fortschritte zu erzielen. Selbst als die Finanzkrise die Furcht vor einer unmittelbar bevorstehenden wirtschaftlichen Kernschmelze auslöste, kamen bei den G20-Gipfeln vom November 2008 in Washington und vom April 2009 in London kaum mehr als harmonisch klingende Erklärungen und mäßig positive Ergebnisse heraus. Warum, ist kein Geheimnis: Es ist schon schwer genug, 20 Verhandlungspartner dazu zu bringen, dass sie sich auf mehr als ein Gruppenfoto und hochfliegende Prinzipienerklärungen einigen, aber wenn sie nicht die gleichen politischen und wirtschaftlichen Grundwerte haben, ist es leichter, einen Sack Flöhe zu hüten.
Die Mitglieder der G7 müssen nicht über die Vorzüge von Demokratie, Menschenrechten, Redefreiheit und freier Marktwirtschaft streiten. Bei aller Uneinigkeit über einzelne Fragen sind diese Grundprinzipien in Amerika, Europa und Japan schon lange fest verankert. In der G20 hingegen besteht ein viel breiteres Meinungsspektrum in diesen Dingen, und die Interessen der etablierten Industrieländer und der Schwellenländer, die zusammen am Verhandlungstisch sitzen, stehen oft in diametralem Gegensatz zueinander. Das ist einer der Gründe, warum die G20 im gleichen Maße Konfliktarena wie Kooperationsforum ist. In den kommenden Jahren wird dieser Mangel an Führung gerade in Bezug auf die größten Probleme noch weitreichende Konsequenzen haben.
Dann gibt es da noch die älteren und vertrauteren multinationalen Institutionen. Am 15. Mai 2011 wachten die New Yorker mit der Nachricht auf, dass Dominique Strauss-Kahn, der geschäftsführende Direktor des Internationalen Währungsfonds, auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen aus dem Flugzeug geholt und verhaftet worden war, weil ihn ein Zimmermädchen aus einem Hotel in Manhattan der sexuellen Belästigung beschuldigte. In den folgenden Tagen berichtete die Boulevardpresse der Stadt mit Hochgenuss über den Fall, wobei sie mit einem offenbar unerschöpflichen Vorrat frankophober sexueller Kalauer aufwartete. [1] Aber während sich die Medien auf die Geschehnisse in der Hotelsuite konzentrierten, lenkten Regierungsbeamte in Islamabad, Neu-Delhi, Brasilia, Moskau und Pretoria die Aufmerksamkeit auf ein Problem von weit größerer Tragweite: Würde der Internationale Währungsfonds Dominique Strauss-Kahn erneut durch einen europäischen Direktor ersetzen? Oder war es nicht an der Zeit, dass die Schwellenländer das Monopol des Westens auf die Führung der einflussreichsten multinationalen Finanzinstitution der Welt endlich brachen?
Die Leichtigkeit, mit der das Exekutivdirektorium des IWF sechs Wochen später die französische Finanzministerin Christine Lagarde zur neuen Chefin machte, verweist auf eine wichtige Tatsache in der internationalen Politik von heute und in naher Zukunft: Zwar haben die Schwellenländer heute viel mehr Einfluss als früher, aber sie sind keineswegs im Begriff, die US-amerikanische und europäische Macht zu ersetzen. Trotz informeller Zusagen hoher europäischer Regierungsbeamter bei der Ernennung Strauss-Kahns im Jahr 2007, dass der nächste IWF-Direktor erstmals kein Europäer sein werde, wurde der Posten seit der Gründung des Fonds im Jahr 1945 zum elften Mal in Folge europäisch besetzt. [2]
Dass sich die
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