Machtlos
Aussage gewesen, die letztlich zur Verurteilung der Täter geführt hatte. Ihre nüchterne Sachlichkeit hatte die erschütternden Fakten umso deutlicher gemacht. Valerie hatte Noor für diese kühle Distanz bewundert, die sie selbst den Medien gegenüber wahrte. Auch in späteren Jahren hatte sich Noor nie hinreißen lassen, über die gegebenen Fakten hinaus zu spekulieren oder emotional Stellung zu beziehen, und sich damit eine Reputation und ein Ansehen geschaffen, das Menschen aufhorchen ließ, wenn sie sich zu Wort meldete.
Wer konnte daran interessiert sein, diese Seriosität in Frage zu stellen, indem er ihren Namen mit terroristischen Gruppierungen in Verbindung brachte? Valerie schälte sich aus der Decke, stand auf und ging in der Zelle auf und ab. Sie hatte schon immer besser denken können, wenn sie in Bewegung war. Doch heute wollte es ihr nicht gelingen, ihre Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Immer wieder schweiften sie zu jenem Tag zurück, an dem sie und Noor sich das erste Mal begegnet waren.
Niemand außer Valerie hatte je erfahren, dass sich Noor nach jener Verhandlung an einem der Hinterausgänge des Landgerichts zitternd eine Zigarette angesteckt hatte, während ihr die Tränen über das Gesicht strömten. Fassungslos und überrascht hatte sich Valerie plötzlich einer Frau gegenübergesehen, die mit der zuvor erlebten Persönlichkeit aus dem Gerichtssaal auf den ersten Blick nur das Äußere gemein hatte. Die kühle Überlegenheit war einem Schmerz gewichen, der Valerie körperlich berührte. Wortlos hatte sie Noor ein Papiertaschentuch gereicht, und als diese die Hand danach ausstreckte, hatten sie sich angesehen. Einen flüchtigen Moment, mehr nicht, der alles verändert hatte. Noors Augen waren plötzlich groß geworden, und sie hatte trotz der Tränen gelächelt. Auf ihre so wunderbare Art. Es gab niemanden, der so lächeln konnte wie Noor.
Das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels in ihrer Zellentür ließ Valerie in ihrer rastlosen Wanderung innehalten. Die Tür öffnete sich mit einem metallischen Scharren, das sie bereits hasste. Eine junge Polizistin, die sie noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, kam herein, in der Hand eine Reisetasche, die Valerie sofort erkannte.
»Ich soll Ihnen einen Gruß von Ihrem Mann ausrichten«, sagte die Beamtin, reichte ihr die Tasche und wollte die Zelle wieder verlassen, als Valerie nach ihrem Arm griff. »War er hier? Hat er etwas gesagt? Bitte …«
Die Frau verharrte. »Ich habe ihn nicht gesehen«, antwortete sie nicht unfreundlich. »Es tut mir leid.« Ihr Bedauern klang ehrlich.
Valerie stellte die Tasche auf ihr Bett und hörte, wie sich die Zellentür wieder schloss. Mit zitternden Fingern zog sie den Reißverschluss auf, nahm den Pullover heraus, der obenauf lag, und drückte ihr Gesicht in die weiche Wolle. Der vertraute Geruch, der ihr entströmte, löste eine so übermächtige Sehnsucht nach Marc und den Kindern aus, dass sie sich hinlegen musste. Ihr ganzer Körper schmerzte plötzlich. Es war, als tobte in ihr ein Tier, das ihr Herz in Tausende kleine Stücke riss. Marc war hier gewesen, ganz in ihrer Nähe …
Sie wusste nicht, wie lange sie inmitten der verstreuten Kleidung gelegen hatte, überwältigt von Verzweiflung und Einsamkeit. Als sie wieder zu sich kam, schmerzte ihr Kopf und ihre Augen brannten. Sie schob Jeans, Pullover und Unterwäsche beiseite und nahm den Kulturbeutel, den sie unten in der Tasche gefunden hatte. Mit einem plötzlichen Gefühl des Ekels streifte sie den Hosenanzug ab, die Bluse, deren Ärmel längst grau waren. Sie ließ ihre Unterwäsche auf den unansehnlichen Kleiderhaufen am Boden fallen und stand schließlich nackt und zitternd vor dem kleinen Waschbecken gleich neben der Toilettenschüssel in der Ecke der Zelle. Langsam, wie einem Ritual folgend, begann sie sich zu waschen. Es war, als könne sie damit den Geruch der Angst der vergangenen Tage von ihrer Haut und aus ihrem Geist spülen, die Erinnerung an Burroughs’ kalten Blick, die Sorge um Noor.
Sie vermied den Blick in den Spiegel. Der Anblick ihres Gesichts vor der Kulisse der kahlen gelben Wände drohte den schmerzenden Klumpen Einsamkeit erneut aufbrechen zu lassen. Sie schloss die Augen und meinte Noors kühle Finger auf ihren Wangen zu spüren. »Du bist zu hitzig, Valerie«, hörte sie ihre flüsternde Stimme. »Du musst nicht immer mit dem Kopf durch die Wand. Es gibt auch andere Wege.«
Zwischen ihren Zehen spürte sie das
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